Unicef über Gaza-Hilfslieferungen: "Die Verzweiflung ist groß"

Interview

Hilfslieferungen im Gazastreifen:Unicef: "Die Verzweiflung ist groß"

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Wie erreichen Hilfsgüter die notleidenden Kinder in Gaza? Unicef-Deutschland-Geschäftsführer Christian Schneider spricht bei ZDFheute über Hunger, Versorgung und Plünderungen.

Hungerkrise in Gaza-Stadt

Palästinenser warten inmitten einer Hungerkrise in Gaza-Stadt auf Lebensmittel aus einer Essensausgabe.

Quelle: laif

Für das Gebiet in und um Gaza-Stadt hat die international anerkannte und von den Vereinten Nationen unterstützte IPC-Initiative offiziell eine Hungersnot festgestellt - zum ersten Mal überhaupt im Nahen Osten. Rund zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter etwa eine Million Kinder.

Hilfsorganisationen wie Unicef versuchen, die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen, arbeiten aber unter extremen Bedingungen vor Ort. Der Vorsitzende des Aktionsbündnis Katastrophenhilfe und Unicef-Deutschland-Geschäftsführer Christian Schneider erklärt, wie Hilfsgüter verteilt werden, wie man mit Plünderungen umgeht - und warum vereinzelte Bilder eines normalen Alltags die Not nicht relativieren.

ZDFheute: Herr Schneider, wofür werden die Spenden aktuell im Gazastreifen eingesetzt?

Christian Schneider: Die Hilfe lässt sich in drei Bereiche gliedern. Erstens geht es um lebenswichtige Güter: Nahrungsmittel, Babynahrung, sauberes Trinkwasser und Hygieneartikel. Zweitens sichern wir das tägliche Überleben unter extremen Notbedingungen - etwa mit Zelten, Decken oder Plastikplanen, wenn Familien immer wieder fliehen müssen.

Drittens kümmern wir uns um Kinder: psychosoziale Unterstützung, Bildungsangebote und Kinderschutz, etwa durch Aufklärung über Blindgänger. Es geht um eine systematische Versorgung von rund zwei Millionen Menschen, davon etwa eine Million Kinder.

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung von UNICEF Deutschland.
Quelle: UNICEF/UN0606712/Etges

... arbeitet seit mehr als 25 Jahren für Unicef Deutschland. Seit 2023 ist er der Vorsitzende der Geschäftsführung. Er setzt sich für Kinderrechte und humanitäre Hilfe ein, insbesondere in Krisengebieten wie Gaza. Er ist außerdem Vorsitzender des Aktionsbündnisses Katastrophenhilfe, mit dem das ZDF zusammenarbeitet.


ZDFheute: Wie viele Helferinnen und Helfer von Unicef und Partnern arbeiten derzeit in Gaza?

Schneider: Eine genaue Zahl gibt es nicht. Die Organisationen sind unterschiedlich strukturiert, manche organisieren sich stark über den Palästinensischen Roten Halbmond. Unicef hat weiterhin eigene Mitarbeitende im Gazastreifen, dazu Teams über Partnerorganisationen. Zahlen nennen wir aus Sicherheitsgründen ungern, weil Mitarbeitende dort extrem gefährdet sind.

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ZDFheute: Viele Spender fragen sich, ob ihre Hilfe wirklich ankommt. Wie stellen Sie sicher, dass Hilfsgüter tatsächlich die Bevölkerung erreichen?

Schneider: Wir wissen sehr genau, was wir reinbringen, und können die von uns bereitgestellten Hilfsgüter sehr gut nachverfolgen. Unicef und die Partnerorganisationen haben jahrzehntelange Erfahrung in humanitärer Hilfe. Wir verfügen über eingespielte Logistik, klare Standards und Netzwerke in Gaza, mit Krankenhäusern und lokalen Partnern.

Wir arbeiten strikt unparteiisch und orientieren uns ausschließlich am Maß der Not. Zudem sind Hilfslieferungen per LKW die bestmögliche Alternative, um die dringend nötige Hilfe überhaupt zu leisten. Diese sind gezielter als die Verteilung von Hilfspaketen über zentrale Standorte und sehr viel verlässlicher als die Verteilung aus der Luft, bei der nicht kontrolliert werden kann, welche Hilfsgüter wen erreichen.

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ZDFheute: Können Sie ausschließen, dass Hilfslieferungen geplündert oder von Konfliktparteien abgegriffen werden?

Schneider: Es kommt vereinzelt zu Plünderungen, das können wir nicht ausblenden. Sie sind der Not der Menschen geschuldet: Eltern sehen, dass ihre Kinder schwächer werden, Kinder sterben. Wenn ein Lastwagen mit Babynahrung oder Wasser vorbeifährt, greifen manche im Notfall zu. Aber der größte Teil unserer Hilfslieferungen kommt gezielt bei den Familien an. Hinweise, dass Hilfsgüter systematisch von Konfliktparteien abgefangen und weiterverkauft werden, haben wir nicht.

ZDFheute: Verteilen Sie Hilfsgüter selbst oder übernehmen das lokale Partner?

Schneider: Beides. Unicef hat eigene Warenlager in Gaza, Mitarbeitende verteilen direkt an Einrichtungen, etwa an Krankenhäuser. Gleichzeitig arbeiten wir eng mit Partnern zusammen. Bei einer Impfkampagne gegen Polio etwa wurden Hunderttausende Kinder geimpft. Die Impfstoffe kamen dabei von Unicef, aber Tausende Freiwillige von Partnerorganisationen führten die Impfungen durch.

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ZDFheute: Immer wieder wird behauptet, auch durch offizielle Stellen in Israel, in Gaza würden trotz dramatischer Notstände neue Cafés eröffnen. Was sagen Sie dazu?

Schneider: Bestätigen kann ich das nicht. Unsere Teams berichten von einer dramatischen humanitären Lage: Fast jedes Kleinkind in Gaza ist von Ernährungsunsicherheit betroffen, Hunderttausende sind an der Schwelle zu lebensgefährlicher Schwächung durch Hunger. Einzelne Bilder dürfen davon nicht ablenken. Kolleginnen, die viele Krisen erlebt haben, sagen, die Situation sei unvorstellbar im Vergleich zu anderen Nothilfefällen.





ZDFheute: Und wie bewerten Sie es, wenn Menschen trotz Krieg versuchen, Geschäfte zu betreiben?

Schneider: Das gibt es in vielen Kriegsgebieten: Menschen versuchen, ein Stück Alltag aufrechtzuerhalten. Ich finde das nicht verwerflich. Aber klar ist: Unsere Hilfslieferungen reichen nicht aus, um zwei Millionen Menschen zu versorgen. Es müssen deshalb auch kommerzielle Lieferungen wieder in großem Umfang zugelassen werden, sonst ist eine Rückkehr zu einem normalen Leben unmöglich.

Das Interview führte Jan Schneider.

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