Gaza: Diese Verletzungen haben Bewohner nach dem Krieg

Interview

Ärzte ohne Grenzen in Gaza:Deutscher Chirurg: "Wir gehen von 170.000 Verletzten aus"

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Drei Wochen hat der deutsche Arzt Jan Wynands Menschen in Gaza operiert. Er spricht über die Folgen des Krieges, knappe Hilfsmittel und Menschlichkeit in Zeiten existenzieller Not.

Vor einem dreistöckigen Haus mit einem rußgeschwärzten Balkon steht ein weißer Lieferwagen der Ärzte ohne Grenzen.

Ärzte ohne Grenzen engagiert sich auch im Gazastreifen. Der deutsche Chirurg Jan Wynands erzählt von seinen Erfahrungen.

Quelle: Imago

ZDFheute: Als Chirurg waren Sie jetzt binnen eines Jahres zum dritten Mal in Gaza. Was hat sich nach Eintritt der Waffenruhe für Ihren humanitären Hilfseinsatz verändert?

Jan Wynands: Statt Patienten mit akuten Kriegsverletzungen sehen wir nun Menschen, die mit den Kriegsfolgen kämpfen - mit chronischen Wunden, Infektionen nach notdürftigen Operationen oder Druckgeschwüren.

Zum Gesamtbild gehören die gewaltigen Zerstörungen an der Infrastruktur - eine riesige Menschenmenge auf engstem Raum in Zeltstädten. Es gibt viele Unfälle in diesem Gedränge: Kinder, die unter die Räder von Lastwagen geraten, Knochenbrüche und schwere Gewebezerreißungen erleiden. Vor allem Kinder ziehen sich auch an offenen Feuerstellen gefährliche Verbrennungen zu, die behandelt werden müssen.

Jan Wynands
Quelle: Ärzte ohne Grenzen

… arbeitet normalerweise als Plastischer Chirurg an der Universitätsklinik Bonn. Für die internationale Organisation "Ärzte ohne Grenzen" leistet der 46-jährige Mediziner regelmäßig humanitäre Hilfe, bislang mehrfach in Gaza, aber auch in der Ukraine, in Haiti und Afghanistan.


ZDFheute: Sie waren bis vor Kurzem in Chan Junis. Wie ist die dortige Klinik ausgestattet?

Wynands: Aktuell reicht das Material für die Basischirurgie, doch alles bleibt knapp bemessen. Besonders schwere Verbrennungen oder komplexe Wunden verlangen Spezialverbände, Wundauflagen und feinchirurgisches Instrumentarium, das oft fehlt.

Es ist ein Operieren "auf Sicht". Gerade bei Eingriffen wie Nerven- oder Gefäßnähten, die über die Funktion von Gliedmaßen entscheiden, wird die Not an präzisem Werkzeug deutlich.

Jan Wynands, Ärzte ohne Grenzen

Auch Schmerzmittel, Antibiotika und Basis-Hygienematerialien sind extrem knapp.

Splitscreen: Gaza-Sniper Daniel G. aus München in Uniform des israelischen Militärs in Gaza (rechts im Bild); zerstörte Gebäude in Gaza-Stadt (links im Bild)

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01.10.2025 | 14:03 min

ZDFheute: Können Sie abschätzen, wie viele Menschen im Gazastreifen medizinische Hilfe benötigen?

Wynands: Wir gehen von circa 170.000 Verletzten in Gaza seit Oktober 2023 aus. Nicht alle mit schwersten Wunden, doch die Zahl ist gewaltig. Viele Tausend werden weitere Eingriffe benötigen, um Behinderungen zu vermeiden. Neben Operationen braucht es physiotherapeutische Betreuung, Prothesenbau und langfristige Nachsorge, um die Folgen des Krieges abzufedern.

ZDFheute: Seit einigen Wochen herrscht in Gaza eine Waffenruhe, die aber mehrfach unterbrochen worden ist. Wie haben Sie diese Situationen erlebt?

Wynands: Das ist für alle schockierend. Als Teil einer internationalen Organisation hoffe ich zwar immer, dass Völkerrecht und humanitäre Prinzipien respektiert werden und wir nicht selbst Ziel werden, aber ein Restrisiko bleibt. Man muss das ausblenden, konzentriert weiterarbeiten - auch wenn Explosionen und Vibrationen furchteinflößend sind.

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ZDFheute: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Kolleginnen und Kollegen erlebt?

Wynands: Als sehr herzlich. Die Leute sind froh, dass wir sie nicht vergessen. Natürlich gibt es das hochprofessionelle Miteinander, aber es gibt abseits des OP-Tischs auch viele berührende Gespräche mit Kollegen, die ich seit Jahren kenne. Jeder hat persönliche Verluste erlitten.

Am schwersten sind die persönlichen Tragödien - ein OP-Pfleger hat eine Videoaufnahme gezeigt, die seinen Sohn zeigte, der nach einer Raketendetonation gestorben war.

Jan Wynands, Ärzte ohne Grenzen

In den Augen des Mannes waren Leere und Trauer. Ich konnte ihm nur sagen, dass ich das nie vergessen werde.

ZDFheute: Sie sind jetzt zum dritten Mal in Gaza gewesen. Vor einem Jahr sagten Sie: "Die Unterernährung wirkt sich leider negativ auf den Heilungsprozess der Patientinnen und Patienten aus." Wie sieht es inzwischen aus?

Wynands: Mangel- und Unterernährung gibt es nach wie vor. Selbst beste Chirurgie stößt an Grenzen, wenn es an wichtigen Nährstoffen fehlt. Bei vielen erschwert Mangelernährung die Wundheilung erheblich und zeigt, wie eng medizinischer Erfolg mit Versorgungslage verknüpft ist.

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ZDFheute: Haben Sie - Stand heute - das Gefühl, aus medizinischer Notwendigkeit in den Gazastreifen zurückkehren zu müssen?

Wynands: Als plastisch-rekonstruktiver Chirurg sehe ich den enormen Bedarf, chronische, nicht heilende Wunden zu behandeln, um Behinderungen zu verhindern. In Bonn liegt mein Schwerpunkt auf der Wiederherstellung von Gesichtsdefekten nach Tumoren. Im Gazastreifen jedoch ist das Spektrum ungleich größer und breiter - die Herausforderungen sind dort von ganz anderer Dimension.

Das Interview führte Marcel Burkhardt.

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