Hat ein Münchner in Gaza Zivilisten getötet?

Verdacht von Kriegsverbrechen:Hat ein Münchner in Gaza Zivilisten getötet?

von M. Christoph, J. Held, D. Laufer, F. Obermaier, H. Osman, M. Retter, S. Sadat
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Ein Scharfschütze des israelischen Militärs wird von einem Kameraden schwer belastet. Experten sprechen von einem mutmaßlichen Kriegsverbrechen.

Ziele im Visier: Der Münchner Daniel G. in einem Gebäude in Gaza-Stadt

Ein israelischer Scharfschütze aus München soll mit einem Kameraden in Gaza unbewaffnete Zivilisten erschossen haben. In einem Video belastetet der Kamerad den Münchner und sich selbst schwer.

09.09.2025 | 12:25 min

November 2023, Gaza-Stadt: Der Scharfschütze Daniel G. sitzt regungslos vor einer Fensteröffnung. Vor ihm ein mit Präzisionsoptiken ausgestattetes M4-Sturmgewehr. Er hat den Finger nah am Abzug, so ist es auf einem Bild aus dieser Zeit zu sehen.

Hat dieser Mann im Dienste des israelischen Militärs im Gazastreifen unbewaffnete Zivilisten erschossen?

Eine Spur führt nach München

ZDF frontal hat mehrere Vorfälle zusammen mit dem "Spiegel", dem britischen "Guardian", der belgischen Zeitung "De Tijd" und dem Netzwerk "Arab Reporters for Investigative Journalism" (ARIJ) untersucht und mehrere mutmaßliche Opfer identifiziert. Experten sprechen von möglichen Verstößen gegen das Völkerrecht oder gar Kriegsverbrechen.

Und eine Spur führt nach Deutschland: Einer der mutmaßlichen Schützen - Daniel G. - war bis Frühjahr 2025 in München gemeldet und ist es vermutlich noch immer.

Am Anfang steht der 7. Oktober 2023 - und der brutale Überfall der Hamas auf Israel. Die Terrorgruppe ermordet mehr als 1.000 Menschen, Frauen werden vergewaltigt, Geiseln verschleppt und gefoltert. Noch am selben Tag beginnt die israelische Armee mit Luftangriffen auf Gaza, knapp drei Wochen später startet die Bodenoffensive. Auch Daniel G. marschiert mit seinem Bataillon ein.

Displaced Palestinians fleeing northern Gaza carry their belongings along the coastal road toward southern Gaza, Saturday, Sept. 6, 2025.

Israels Armee intensiviert ihre Offensive in Gaza und hat auch Hochhäuser bombardiert. Die Bevölkerung von Gaza-Stadt wurde per Flugblatt aufgerufen, das Gebiet zu evakuieren.

06.09.2025 | 2:18 min

Video zeigt Tötung mutmaßlich unbewaffneter Männer

In dieser Zeit produziert ein israelischer Soldat ein Video mit mehreren kurzen Szenen, die aussehen wie Hinrichtungen: anscheinend unbewaffnete Menschen, die nach Schüssen zusammensacken, dazu Leichen, die wie Müll am Straßenrand liegen. Unterlegt ist das Ganze mit dramatischer Musik. Der kurze Film ist mittlerweile auf YouTube gelöscht, ZDF frontal liegt er vor.

Treffen von Angehörigen der Hamas-Geiseln bei Außenminister Wadephul im Juli 2025 in Berlin.

Noch immer befinden sich auch sieben deutsche Staatsbürger in den Händen der Hamas. Mit grausamen Videos versuchen die Terrororganisationen, den Druck auf Israel zu erhöhen.

02.09.2025 | 9:24 min

Die Tötungsszenen tauchen auch in einem zweiten Video mit belastendem Material auf. Der palästinensische Journalist Younis Tirawi veröffentlicht es im Oktober 2024. Darin wird Daniel G. ausgerechnet von einem Scharfschützen-Kameraden belastet, der sich "Sergeant D." nennt. "Das ist meine erste Tötung", sagt "Sergeant D." über eine Szene, in der zu sehen ist, wie ein Mann sich über einen Leichnam beugt und erschossen wird. Der Soldat räumt ein, er habe nicht genau gewusst, wen er da getötet habe.

Scharfschütze Daniel R. in einem Gebäude in Gaza-Stadt.

Scharfschütze Daniel R. in einem Gebäude in Gaza-Stadt.

Quelle: privat

Ein Geständnis auf Video

"Sergeant D.", der mit richtigem Namen Daniel R. heißt, spricht auch von weiteren erschossenen Männern in Gaza. "Auf derselben Achse", auf der er selbst einen Mann beim Bergen einer Leiche erschossen habe, seien weitere Menschen getötet worden. An mehreren Stellen des Videos bringt er seinen "Zemed" in Verbindung mit Tötungen in derselben Gegend. "Zemed" ist Hebräisch und heißt Partner. Scharfschützen sind meist zu zweit unterwegs. Die eine Person hält Ausschau und die andere schießt. Der Partner von "Sergeant D." ist der Münchner Daniel G.

Die belastenden Aussagen fielen in einem Interview, in dem der Scharfschütze "Sergeant D." freimütig über seinen Einsatz erzählt. Als er berichtet, dass er und sein Partner unbewaffnete Palästinenser getötet hätten, glaubt der israelische Soldat allerdings, die Kamera sei ausgeschaltet.

Das Interview, in dem ein Kamerad den Münchner Daniel G. belastet, war kein normales Interview, sondern eine Falle. Der palästinensische Journalist Younis Tirawi und der Interviewer, ein Israeli dessen Name der Redaktion bekannt ist, haben den Soldaten glauben lassen, er wirke an einer Doku über "Helden" des israelischen Militärs mit. Die belastendsten Aussagen entstanden in einer Interviewpause, während die Kamera heimlich weiterlief.

Dem ZDF liegen exklusiv neun Videodateien mit insgesamt rund 160 Minuten Interview vor. Das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie hat die Datei mit den wichtigsten Aussagen untersucht - und "keine Anzeichen" für inhaltliche Änderungen gefunden. Tirawi hat seine Angaben mit einer eidesstattlichen Erklärung untermauert. Im Oktober 2024 veröffentlichte er auf X eine Dokumentation, in der er auch Daniel G. und den Verdacht der Tötung von Zivilisten erstmals erwähnte.


Vom Münchner Gymnasiasten zum Elitesoldaten

Daniel G. ist laut geleakten israelischen Registerdaten in Deutschland geboren. Der heute 25-Jährige ging in München zur Schule. Nach dem Abitur schloss sich G. den israelischen Streitkräften an und ließ sich zum Scharfschützen ausbilden. Er wurde Teil des Fallschirmjägerbataillons 202.

Aufnahmen zeigen ihn und seinen Partner "Sergeant D." nach dem Einmarsch in den Gazastreifen: Sie lauern an einem Fenster oder zielen durch ein Loch in der Wand. Die Bilder wurden in einem Gebäude in Gaza-Stadt im Viertel Tall al-Hawa aufgenommen. Vor Ort fand ZDF frontal hebräische Kritzeleien - darunter das informelle Logo der Gruppe um Daniel G.: eine 9 mit Teufelsschwanz und Hörnern.

Die mutmaßlichen Opfer

ZDF frontal hat sechs Menschen identifiziert, die laut Zeugen in Sichtweite von diesem Gebäude am 22. November 2023 durch Schüsse verletzt wurden, vier von ihnen tödlich. So soll es sich bei dem Mann im Drohnenvideo, den "Sergeant D." erschossen haben will, um einen 19-Jährigen namens Salem Montasser Doghmosh handeln.

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Quelle: ZDF

ZDF frontal am 9. September um 21 Uhr mit diesen Themen: Die dunkle Seite der Leichtathletik, Fragwürdige Maßnahmen für Arbeitslose und Streit um den Sozialstaat.


Augenzeugen berichten übereinstimmend, die Aufnahme zeige ihn beim Versuch, seinen Bruder zu retten, den Scharfschützen zuvor getroffen hätten. Der Vater der beiden soll beim Versuch, seine Söhne zu bergen, ebenfalls getötet worden sein.

Drohnenaufnahme von der Tötung eines Mannes, der offenbar einen Leichnam bergen wollte

Drohnenaufnahme von der Tötung eines Mannes, der offenbar einen Leichnam bergen wollte

Quelle: Screenshot youtube / Shalom Gilbert, veröffentlicht im April 2024

Rund hundert Meter entfernt sollen Scharfschützen noch einen weiteren Mann erschossen haben. Er und Daniel G. hätten innerhalb von zwei Tagen "acht Terroristen eliminiert", sagt "Sergeant D.".

Kritzeleien im Gebäude, in dem G. und “Sergeant D.” Stellung bezogen: Die “9” mit Teufelshörnern und Schwanz ist ein informelles Symbol der Gruppe

Kritzeleien im Gebäude, in dem G. und "Sergeant D." Stellung bezogen: Die "9" mit Teufelshörnern und Schwanz ist ein informelles Symbol der Gruppe.

Quelle: ARIJ/ZDF

Mutmaßliche Opfer stammen aus Hamas-kritischer Großfamilie

Das Rechercheteam fand keine Hinweise, dass die vier identifizierten Todesopfer einer Terrororganisation angehörten. Im Gegenteil: Sie stammen alle aus derselben Großfamilie, die Medienberichten zufolge als Hamas-kritisch gilt.

Ob das israelische Militär die Vorfälle untersucht, ist unklar. Die Pressestelle ließ diese zentrale Frage über einen Zeitraum von fünf Monaten unbeantwortet. Sie erklärte lediglich allgemein, "Ereignisse dieser Art sowie Berichte über Videos, die in sozialen Medien gepostet wurden" zu untersuchen und "mit Befehls- und Disziplinarmaßnahmen" dagegen vorzugehen. "In Fällen, in denen der Verdacht auf eine Straftat besteht, die die Einleitung einer Untersuchung rechtfertigt, wird eine Untersuchung durch die zuständige Abteilung der Militärpolizei eingeleitet."

ZDF frontal konnte durch Satellitenbilder, Social-Media-Posts und Fotos die Identität von Daniel G. und "Sergeant D." sowie mutmaßliche Tatorte nachvollziehen. Eine palästinensische Journalistin, deren Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird, zeigte Anwohnern Aufnahmen der Erschießungen, die "Sergeant D." in dem teils heimlich gefilmten Interview kommentiert hatte; mehrere Personen identifizierten die mutmaßlichen Opfer. Die Angaben zu Todeszeitpunkt und Namen stimmen mit Einträgen im Sterberegister des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums überein; dem ZDF liegen auch die Sterbeurkunden vor.

"Sergeant D." sagt außerdem, sie seien ein oder zwei Tage vor einer Waffenruhe in Tall al-Hawa gewesen. Diese trat am 24. November 2023 in Kraft - zwei Tage nach den Erschießungen. Die Rechercheurin sprach mit 13 Zeugen und Angehörigen vor Ort, die auch zu den Tatorten führten - darunter auch Überlebende, die zum Teil schwer verletzt wurden - wie Arztbriefe belegen. Insgesamt befragte das Rechercheteam mehr als drei Dutzend Experten, darunter Völkerrechtler, forensische Waffenexperten und ehemalige israelische Soldaten.


Völkerrechtler: "Indizien deuten auf Kriegsverbrechen hin"

"Sergeant D." rechtfertigt an mehreren Stellen im Interview die Tötung unbewaffneter Menschen. Er spricht von einer imaginären Linie im Kampfgebiet, die über Leben und Tod entschieden habe. Wer sie überschritt, wurde erschossen. Die Palästinenser hätten allerdings nicht gewusst, wo diese Linie verläuft - "wir schon".

"Das humanitäre Völkerrecht setzt voraus, dass man zwischen militärischen und zivilen Objekten unterscheidet", sagt Christoph Safferling, Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg. "Man kann keine Zone definieren, in der alles, was sich bewegt, automatisch militärisches Objekt ist."

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Das Reporterteam erreichte "Sergeant D." telefonisch. Er legte auf, sobald er hörte, dass es sich bei den Anrufern um Journalisten handelt. Fragen, die das Team auf verschiedenen Kanälen versucht hat, ihm zu übermitteln, blieben unbeantwortet. Daniel G. war für das ZDF nicht zu erreichen.

Anfragen gingen sowohl an seine Münchner Adresse als auch an das israelische Militär mit der Bitte um Weiterleitung. Bis zum Redaktionsschluss gab es keine Antwort. Ein Anwalt untersagte jede weitere Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen von Daniel G.

Im Einsatz im Gazastreifen: Daniel G. (2. v. rechts) und Sergeant D. (Mitte) mit drei Kameraden, hinten das informelle Logo der Gruppe

Im Einsatz im Gazastreifen: Daniel G. (2. v. rechts) und Sergeant D. (Mitte) mit drei Kameraden, hinten das informelle Logo der Gruppe.

Quelle: privat

Ob und von welcher Seite die Vorwürfe gegen Sergeant D. und seinen Münchner Kameraden auf Grundlage der inzwischen vorliegenden Informationen nochmal eingehend untersucht werden, ist offen. "Einiges deutet auf ein Kriegsverbrechen hin", sagt der US-Völkerrechtler Tom Dannenbaum. Es gilt die Unschuldsvermutung. In Belgien wird aktuell gegen ein Mitglied ihrer Einheit ermittelt.

Nach dem Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht sind Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit möglich, selbst wenn sich weder Täter noch Opfer oder Tatort in Deutschland befinden. Daniel G. ist in der Bundesrepublik aufgewachsen und war auch 2025 noch dort gemeldet. Tatsächlich liegt schon mindestens seit Januar eine Strafanzeige gegen G. vor, wer sie gestellt hat, ist unbekannt. Die Bundesanwaltschaft legte den Fall allerdings kurz darauf "mangels hinreichenden Anfangsverdachts" zu den Akten. Doch weder der Münchner Daniel G. noch sein Partner wurden bisher zu den Vorwürfen befragt. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Nach Informationen von ZDF frontal wurden in Deutschland in den vergangenen Monaten gegen insgesamt fünf Soldaten des israelischen Militärs Anzeigen erstattet - sie sollen einen deutschen Pass besitzen, oder sich zumindest in der Bundesrepublik aufgehalten haben. Die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft derzeit außerdem den Vorwurf gegen eine deutsche Staatsangehörige "wegen Beihilfe zum Mord wegen Beteiligung an der militärischen Logistik Israels".


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