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Analyse
Wackelt die Unvereinbarkeit?:Union und Linke: Mehr als ein "Pocket Call"
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Auch für das Verhältnis der Union zur Linken war der Tag der Kanzlerwahl historisch. Friedrich Merz hat die Linke plötzlich gebraucht. Ist der Unvereinbarkeitsbeschluss Geschichte?
Kurz nachdem Friedrich Merz im ersten Wahlgang gescheitert ist, erhält die ehemalige Chefin der Linkspartei Janine Wissler einen Anruf. Alexander Dobrindt ist am Apparat, bis vor kurzem CSU-Landesgruppenchef. Das sei jetzt kein "Pocket Call", also kein Taschenanruf aus Versehen, gibt er Wissler zu verstehen, er müsse dringend mit ihr sprechen.
Die Telefonnummer der amtierenden Vorsitzenden der Linksfraktion, Heidi Reichinnek und Sören Pellmann, kennt in der Unionsspitze offenbar niemand.
Wie die Union über ihren Schatten springt
Dobrindt und Wissler telefonieren an diesem Vormittag mehrmals miteinander: Kann die Linke dabei helfen, noch am gleichen Tag einen zweiten Wahlgang stattfinden zu lassen? Zwei Optionen prüfen SPD und Union:
- Erstens einen Fristverzicht, für den es aber die Zustimmung aller Fraktionen bräuchte, auch die der AfD.
- Zweitens eine Abweichung von der Geschäftsordnung, für die eine Zweidrittelmehrheit mit Linken und Grünen notwendig wäre. Die SPD macht relativ schnell klar: keine Abstimmung, bei der man auf die AfD angewiesen ist.
Es ist also an der Union, über den Schatten zu springen, der für sie Linksfraktion heißt. Sie tut es am Ende, trotz ihres Unvereinbarkeitsbeschlusses mit der Partei.
Linke verhandeln plötzlich mit Union
Und so machen sich an diesem Dienstag im Parlament irgendwann Janine Wissler, der parlamentarische Geschäftsführer Christian Göhrke und die beiden Fraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek und Sören Pellmann auf, um mit Grünen, SPD und Union hinter verschlossenen Türen zu sprechen.
In einem zweiten Gespräch ist auch die Parteichefin der Linken, Ines Schwerdtner, mit dabei. Der CDU-Parteichef und designierte Kanzler Friedrich Merz allerdings, der noch im Wahlkampf gegen "grüne und linke Spinner" gewettert hatte und beide Parteien nun braucht, nimmt an keinem der Gespräche teil. Die Lage sondieren für ihn: Jens Spahn, Alexander Dobrindt und Thorsten Frei.
In der CDU gibt es auch Bedenken
Nachdem die Rechtslage geklärt ist, einigen sich Union, SPD, Grüne und Linke schließlich auf einen gemeinsamen Antrag. Im Plenum dankt der parlamentarische Geschäftsführer der Union Steffen Bilger offiziell "allen Beteiligten an den Gesprächen der vergangenen Stunden, namentlich SPD, Grünen und Linken". Es sei "ein gutes Zeichen, wenn heute ein zweiter Wahlgang möglich ist."
Für viele Unions-Abgeordnete allerdings ist es auch ein Dank unter Schmerzen. CDU-Politiker Tilman Kuban sagt kurz darauf im ZDF, er sehe keine Möglichkeit, anders zu agieren.
Nichtsdestotrotz fällt mir das extrem schwer, weil ich mit Extremisten von rechts und von links nicht zusammenarbeiten möchte.
Tilmann Kuban, CDU
Nicht wenige in der Union haben an diesem Tag im Ohr, was die linke Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek noch einen Tag zuvor in einem Interview mit der Osnabrücker Zeitung gesagt hat: "In den heutigen Zeiten muss man radikal sein", der Kapitalismus müsse gestürzt werden, die "Systemfrage" gestellt.
Union hat einen "Unvereinbarkeitsbeschluss"
Reichinneks Worte stehen in scharfem Kontrast zur Begründung der Union aus dem Jahr 2020, warum sie sich von der Linkspartei abgrenzt: "Die Linke steht […] für eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Soziale Marktwirtschaft und der von der Linken angestrebte demokratische Sozialismus stehen sich unvereinbar gegenüber. Die Linke will den Systemwechsel."
Die politischen Gegner jedenfalls werden die Union so schnell nicht herauslassen aus diesem Aufweichen des eigenen Unvereinbarkeitsbeschluss. Der ehemalige Bundestagsvizepräsident der FDP Wolfgang Kubicki nennt auf X die Einbindung der Linkspartei in die Verfahrensfrage der Kanzlerwahl eine "weitere schwere innerparteiliche Hypothek".
Wird sich die CDU bewegen?
Innerparteilich gehen die Positionen dann auch tatsächlich schon kurz nach der Kanzlerwahl auseinander. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann beteuert noch am Abend bei "Markus Lanz": "Der Unvereinbarkeitsbeschluss gilt".
Doch der neue Kanzleramtsminister Torsten Frei (CDU) zeigt sich schon am Tag danach offen, über eine Abschaffung des Unvereinbarkeitsbeschlusses nachzudenken. Man sei in einer Situation, "wo wir die ein oder andere Frage neu bewerten müssen", sagt er RTL/ntv.
Keine gewöhnliche Verfahrensfrage
Und auch die Linke erwartet nun, dass sich etwas ändert. Seit gestern sei auch auf Bundesebene klar, dass die Linke so stark sei, dass die CDU an ihr nicht vorbeikomme, sagt Linken-Chefin Ines Schwerdtner ZDFheute:
Wir sind bereit, wenn die Hütte brennt, mit zu löschen, aber dann erwarten wir auch bei kommenden politischen Projekten mit einbezogen zu werden.
Ines Schwerdtner, Linke
Was das heißt: mit einbezogen werden – muss allerdings auch die Linkspartei jetzt für sich klären. Der Wahlkampf, bei dem die totgeglaubte Partei, 8,6 Prozent holte, war ein Anti-Merz-Wahlkampf. Will die Linkspartei in Zukunft weiter Mehrheiten für Friedrich Merz beschaffen oder will sie radikale Opposition sein?
Klar ist: Union und Linke werden ihr Verhältnis neu ordnen müssen. Denn das war keine gewöhnliche Verfahrensfrage im Bundestag – es ging um die Kanzlerwahl, die Schicksalsfrage für Friedrich Merz - und die Linkspartei hat ihm an diesem historischen Tag geholfen.
Andrea Maurer ist Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio Berlin.
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