Ehemalige Hamas-Geisel: Das Leben nach der Gefangenschaft in Gaza

Interview

Tal Shoham über das Leben danach:Wie überlebt man 505 Tage als Hamas-Geisel?

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Tal Shoham war 505 Tage als Hamas-Geisel gefangen. Zusammen mit Evjatar David, der nun sein eigenes Grab schaufeln musste. Über Shohams Gefangenschaft und das Leben danach.

Porträt von Tal Shoham, einem israelischen ehemaligen Geiselnehmer, der von Hamas-Militanten im Gazastreifen festgehalten wurde. Er steht in Tel Aviv und wirkt ruhig und nachdenklich.
Tal Shoham, ehemalige Hamas-Geisel aus Gaza, spricht im Interview über seine Gefangenschaft und wie er heute mit den Erlebnissen umgeht.
Quelle: AP

Tal Shoham war 505 Tage in Gaza in Gefangenschaft. Seine Frau und seine Kinder kamen nach 50 Tagen frei.
Fast die Hälfte seiner Zeit verbrachte Tal Shoham in einem engen Tunnel unter der Erde. Gemeinsam mit Evjatar David, dem Mann, der vor laufender Kamera sein eigenes Grab schaufeln musste. Eine Zeit die Tal Shoham immer begleiten wird, sagt er im Interview mit ZDFheute.
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ZDFheute: Wie geht es Ihnen, Herr Shoham?
Tal Shoham: Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Einerseits danke ich Gott, dass ich die Gefangenschaft überlebt habe und vor fünf Monaten freigelassen wurde. Und dass ich noch eine Familie habe, zu der ich zurückkehren konnte. Andererseits leben immer noch Menschen in den Hamas-Tunneln, zwei von ihnen sind zu meinen Brüdern geworden: Evjatar David und Guy Gilboa-Dalal. Als ich die Videos sah, die die Hamas von Evjatar veröffentlicht hat, war ich total schockiert.

Porträt von Tal Shoham, der von Hamas-Militanten im Gazastreifen festgehalten wurde. Er steht in Tel Aviv und blickt ruhig in die Kamera.
Quelle: AP

Tal Shoham ist israelisch-österreichischer Staatsbürger. Am 7. Oktober 2023 wurde er während des Hamas-Angriffs auf den Kibbuz Be'eri in Israel verschleppt und war 505 Tage in der Gewalt der Hamas.

Seine Ehefrau und seine Kinder wurden getrennt von ihm gefangen gehalten. Sie wurden im November 2023 freigelassen. Tal Shoham wurde im Zuge der ersten Phase des Geiselabkommens zwischen Israel und der Hamas am 22. Februar 2025 befreit.

ZDFheute: Was ist Ihrer Meinung nach der Zweck hinter der Veröffentlichung eines solchen Videos durch die Hamas? Was wollen sie erreichen?
Shoham: Die Hamas ist eine Terrororganisation, die schlimmer ist als der IS. Was sie tun, ist psychologische Kriegsführung.

Sie tun so, als würden die Geiseln hungern, weil es in Gaza keine Lebensmittel gibt. Und sie wollen, dass die Welt diese Darstellung glaubt.

ZDFheute: Sie haben einen Großteil Ihrer Gefangenschaft mit Evjatar David und zwei anderen in dem Tunnel verbracht, der auf dem Video zu sehen ist. Was sind diese Männer für Sie?
Shoham: Wir haben eine echte Bruderschaft gebildet, nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch gemeinsamen Glauben und das, was wir erlebt haben. Wir haben 481 Tage zusammen verbracht, davon achteinhalb Monate in Tunneln, 20 Meter unter der Erde. Die Zeit dort war das Extremste, was ich in meinem Leben erlebt habe. Der Tunnel war einen Meter breit, 1,80 Meter hoch und 12 Meter lang, vier Matratzen und Betonwände rundherum. Wir saßen da zu viert. Eine weitere Geisel, Omer Benkert, war noch dort. Er wurde im Februar zusammen mit mir freigelassen. Die drei sind meine Brüder.
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ZDFheute: Hatten Sie während Ihrer Zeit im Tunnel genug zu essen?
Shoham: Wir erhielten alle 24 Stunden kleine Portionen Reis oder Brot. Wir haben diese Lebensmittel bis zum Ende des Tages aufbewahrt, weil es einfacher war, nach dem Schlafen mit dem Hunger zu kämpfen, als zu essen und dann den ganzen Tag über Hunger zu haben. Deshalb haben wir lieber vor dem Schlafengehen gegessen.
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ZDFheute: Auch Ihre Frau und Ihre Kinder wurden von der Hamas als Geiseln festgehalten. Sie wussten nicht, ob sie noch lebten oder ob Sie selbst überleben. Wie haben Sie diese Bedingungen ertragen?
Shoham: Ich sagte den anderen, dass wir keine Kontrolle über unsere Umgebung haben, darüber, was die Terroristen mit uns machen werden, darüber, wie viel Essen und Wasser wir bekommen werden, wo wir sein werden. Aber dass wir alles dafür tun müssen, mental stabil zu bleiben. Wir müssen nicht gegen die Hamas kämpfen. Wir müssen nichts weiter tun, als unser inneres Gleichgewicht zu bewahren, damit wir - sollten wir irgendwann freikommen - noch Menschen sind und keine Hüllen. Das hat mich stark gemacht. Auch die Hoffnung, dass meine Familie auf mich wartet.

Ich wollte, dass meine Kinder einen Vater und meine Frau einen Ehemann haben, wenn ich freikomme.

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ZDFheute: Sie wurden im Februar zusammen mit einer weiteren Geisel freigelassen. Zwei von Ihnen mussten zurückbleiben. Wie hat sich das auf Sie ausgewirkt?
Shoham: Das Leben ist so komplex. Und im Moment durchleben wir einfach diese Wellen des Glücks auf der einen Seite und der Trauer auf der anderen.

Ein Teil von mir ist immer noch mit Evjatar und Guy im Tunnel und ein Teil von mir ist bei meiner Familie und meinem eigenen Leben.

ZDFheute: Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit die Geiseln freikommen, die noch in Gefangenschaft sind?
Shoham: Ich fürchte, dass sie nicht mehr viel Zeit haben. Sie verhungern. Ich sehe keine andere Lösung, als dass Regierungen weltweit Druck auf die Hamas ausüben, damit sie an den Verhandlungstisch zurückkehrt, um diesen Krieg zu beenden.
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ZDFheute: Hat das, was Ihnen und Ihrer Familie widerfahren ist, Ihre Sicht auf die Welt verändert?
Shoham: Zum Teil, ja. Ich bin in friedlichen Dörfern rund um Gaza aufgewachsen. In diesen Gemeinden glauben wir, dass Frieden immer erreicht werden kann. Aber nachdem ich lange Zeit mit den Hamas-Terroristen verbracht und die Palästinenser in Gaza gesehen habe, kann ich mir nicht vorstellen, wie Frieden tatsächlich erreicht werden kann. Denn die Friedensbedingung der Hamas ist die Auslöschung aller Juden in Israel. Und sie werden nicht aufhören, bis sie ihr Ziel erreicht haben.
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ZDFheute: Was empfinden Sie, wenn Sie an die Zukunft denken?

Ich lebe im Jetzt. Ich glaube, dass ein Mensch in tiefster Not große Kraft aus Routinen schöpfen kann.

Shoham: Die Zeit in der Gefangenschaft ist Teil dessen, was ich geworden bin und wer ich sein werde. Ich bin froh, dass ich meine Menschlichkeit nicht verloren habe, während ich an diesem schrecklichen Ort festsaß. Ich empfinde Dankbarkeit und Wertschätzung für das Leben, für die Wiedervereinigung meiner Familie und dafür, dass ich überlebt habe.
Das Interview führte Verena Garrett.

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