Asyl-Debatte: Kann das "Notlage"-Argument greifen?
FAQ
Debatte über Dublin-Regeln:Asyl: Kann das "Notlage"-Argument greifen?
von Daniel Heymann, Svenja Kantelhardt
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Die Dublin-Regeln nicht anwenden, weil in Deutschland eine Asyl-"Notlage" herrscht - in diese Richtung argumentiert unter anderem Innenminister Dobrindt. Kann das überzeugen?
Trotzdem wollen Merz und Dobrindt die Praxis der Zurückweisungen beibehalten. 03.06.2025 | 1:44 min
Die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts (VG) vom Montag hallt weiter nach. In dem Beschluss erklärt die Kammer die Zurückweisung dreier somalischer Schutzsuchender für rechtswidrig. Sie können nun aus Polen nach Deutschland kommen, damit hier geklärt wird, welcher Staat für ihr Asylverfahren zuständig ist.
Was bedeutet das für die Zurückweisungen generell? Während vor allem Grüne und Linke das sofortige Ende der neuen Praxis fordern, winkt die Bundesregierung bislang ab. Innenminister Dobrindt (CSU) spricht von einem "Einzelfall", man werde an den Zurückweisungen festhalten, die Rechtsgrundlage sei gegeben.
Dafür stützt er sich unter anderem auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) - im öffentlichen Diskurs inzwischen auch als "Notlage"-Regelung bekannt. Was hat es damit auf sich? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was sind die Voraussetzungen von Artikel 72 AEUV?
Artikel 72 AEUV erlaubt den Mitgliedstaaten "für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" ausnahmsweise von Vorgaben des europäischen Rechts wie der Dublin-III-Verordnung abzuweichen. Damit sollen Mitgliedstaaten in der Lage bleiben, flexibel auf mögliche Gefahren zu reagieren.
Das ist aber kein Freifahrtschein: Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ihre Bedenken ordentlich zu begründen und nachzuweisen, dass eine Abweichung wirklich notwendig ist. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist in dieser Sache ein strenger Prüfer: Die Ausnahme sei nur für "ganz bestimmte, außergewöhnliche Fälle" vorgesehen. Dabei geht es vor allem um Situationen, in denen die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen erheblich beeinträchtigt ist.
Kein einziges EU-Land hat sich bisher erfolgreich vor dem EuGH auf Artikel 72 AEUV berufen können.
Innenminister Dobrindt will zudem, dass die Bundesregierung künftig allein entscheiden kann, was ein sicheres Herkunftsland ist. Was er mit dieser Reform bezweckt, berichtet Diana Zimmermann.04.06.2025 | 1:26 min
Was hat das VG Berlin dazu gesagt?
Im Verfahren vor dem VG Berlin hat sich die Bundesregierung ebenfalls auf Artikel 72 AEUV gestützt, dies allerdings kaum begründet. So schreibt die Kammer in ihrem Beschluss unter anderem:
Es fehlt bereits an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des Artikel 72 AEUV [...]
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VG Berlin, Beschluss 6 L 191/25
Das Gericht hält in seiner Entscheidung zwar fest, dass in der Theorie durchaus Konstellationen denkbar sind, in denen ein Mitgliedsstaat sich wegen starker Migrationsbewegungen auf die Sonderregel berufen kann. Im konkreten Fall sei jedoch "weder vorgetragen noch sonst ersichtlich", dass die Situation für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre. Außerdem bemängelt das Gericht, dass die Bundesregierung nicht erklärt, wie sich die Zurückweisungen überhaupt auf die aktuelle Lage auswirken.
Unter dem neuen Innenminister werden an Deutschlands Grenzen auch Asylsuchende zurückgewiesen. Ein Berliner Gericht urteilt, das sei rechtswidrig. Dobrindt aber ist unbeeindruckt.02.06.2025 | 1:32 min
Der Migrationsrechtler Daniel Thym betont deshalb:
Das Gericht konnte in der Sache gar nicht klären, ob die Berufung auf Artikel 72 AEUV überzeugt oder nicht, weil die Bundespolizei nur auf die Asylantragszahlen verwiesen hat.
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Migrationsrechtler Daniel Thym
Thym erklärt weiter, dass auch mit ausführlicher Begründung keineswegs garantiert sei, ob Gerichte der Argumentation folgen. Realistisch könnte sich die Bundesregierung laut Thym nur darauf stützen, dass die Integration der vielen Migranten insgesamt eine große, langfristige Herausforderung sei, auch wenn die Asylantragszahlen derzeit zurückgehen.
In seiner ersten Regierungserklärung hat Bundeskanzler Merz seine härtere Asylpolitik verteidigt. Über die Besonderheiten der Rede berichtet ZDF-Korrespondentin Andrea Maurer.14.05.2025 | 1:32 min
Wie ist die Position der Bundesregierung?
Bundeskanzler Merz (CDU) scheint die Einschätzung seines Innenministers zu teilen. Jedenfalls nimmt er in seiner Erklärung sprachlich Bezug auf die Voraussetzungen des Artikel 72 AEUV. "Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisung vornehmen können. [...] Wir werden das tun, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren", sagte er am Rande des Kommunalkongresses in Berlin.
Zurückhaltender zeigte sich dagegen Bundesjustizministerin Hubig (SPD). Entscheidungen der Gerichte seien zu befolgen. Mit Blick auf die Argumentation ihres Kabinettskollegen Dobrindt sagte Hubig:
Man muss wissen, dass es ein Risiko ist und das weiß er auch und das wird er jetzt begründen.
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Stefanie Hubig, Justizministerin
Sie habe ihre Überlegungen dazu deutlich gemacht und sieht die Verantwortlichkeit beim Bundesinnenministerium. Hubig betonte, man wolle jetzt keine Streitigkeiten in öffentlicher Form austragen - und kündigte zunächst Gespräche innerhalb der Bundesregierung an.
Daniel Heymann und Svenja Kantelhardt arbeiten in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.