Bundestagswahl: Experte warnt vor "sozialer Eiseskälte"
Interview
Experte Butterwegge zu Wahlkampf:"Soziale Eiseskälte breitet sich aus"
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Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge kritisiert einen demokratiegefährdenden gesellschaftlichen "Klimawandel" und einen "schmutzigen, verlogenen" Wahlkampf.
Die soziale Schere in Deutschland klafft noch immer weit auseinander, findet Armutsforscher Butterwegge.
Quelle: Imago
ZDFheute: Kurz vor der Bundestagswahl weiß fast jeder dritte Wahlberechtigte noch nicht, wo er seine Kreuzchen setzen soll. Wissen Sie es schon?
Christoph Butterwegge: Ich bin auch noch etwas hin- und hergerissen, weil mir keines der Wahlprogramme völlig zusagt.
Bei der "Schlussrunde", dem letzten TV-Schlagabtausch vor der Wahl, diskutierten Vertreter aller Parteien auch über bisher weniger beachtetete Themen.21.02.2025 | 0:23 min
ZDFheute: Welche Eindrücke haben Sie von diesem Wahlkampf gewonnen?
Butterwegge: Der Wahlkampf hat mich sehr enttäuscht, weil er schmutzig und verlogen war. Anstatt den Oben-unten-Gegensatz und die soziale Ungleichheit in unserem Land zu behandeln, wurde ganz auf den Innen-Außen-Gegensatz abgestellt, also eine Frontlinie zwischen Deutschen und Zuwanderern konstruiert.
Lösungsvorschläge zur Bekämpfung von Hyper-Reichtum und Armut durch eine gerechtere Steuerpolitik? Fehlanzeige!
Deutschlands zentrale Zukunftsfragen wie der gesellschaftliche Zusammenhalt und der Schutz unserer Demokratie wurden praktisch ignoriert.
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Wer darf wählen und wie wird gewählt? Die heißen Endphase der Bundestagswahl hat begonnen.20.02.2025 | 2:00 min
ZDFheute: Sie beklagen einen "sozialen Klimawandel". Was meinen Sie damit?
Butterwegge: In unserer Gesellschaft wird es immer ungemütlicher. Soziale Eiseskälte breitet sich aus.
ZDFheute: Übertreiben Sie da nicht etwas?
Butterwegge: Nein, es gibt in Deutschland seit über 20 Jahren einen Prozess zunehmender Entsolidarisierung.
Statt dass man sozial Benachteiligte unterstützt, werden sie diskriminiert und kriminalisiert.
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Rezession, Inflation - die hohen Preise für Lebenshaltung bringen immer mehr Menschen in Deutschland an die Armutsgrenze.28.01.2025 | 14:51 min
Man behauptet, sie seien faul, lebten in Saus und Braus, missbrauchten das Sozialsystem. Angeblich müssen sich die Fleißigen für die Faulen krummarbeiten.
Die tonangebenden Parteien in Deutschland fordern mehr Subventionen und Steuernachlässe für Unternehmer, statt die wachsende Armut konsequenter zu bekämpfen.
Quelle: Imago
... erforscht seit Jahrzehnten wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Bis 2016 lehrte der Politikwissenschaftler und Buchautor als Professor an der Universität Köln. Das Problem wachsender Ungleichheit bezeichnet Butterwegge als "Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit".
Für die Wahl des Bundespräsidenten 2017 wurde er von der Linkspartei als Gegenkandidat zu Frank-Walter Steinmeier (SPD) aufgestellt. Von insgesamt sechs Kandidaten erzielte Butterwegge damals das zweitbeste Ergebnis. Er war SPD-Mitglied, trat 2005 aus.
ZDFheute: Deutschland erlebt derzeit wirtschaftlich schwere Zeiten …
Butterwegge: Das ist für mich ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Deutschland ist nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Die meisten Unternehmer hierzulande sind wohlhabend, andere reich, und nur manchen Kleinunternehmern geht es wirklich schlecht.
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Ganz im Gegenteil: Hyperreiche haben Milliardenvermögen wie nie zuvor angehäuft, die sie der Gesellschaft entziehen.
Die schlechte Wirtschaftslage ist ein wichtiges Wahlkampfthema. Auch die deutsche Autoindustrie steckt in der Krise. Ein Beispiel dafür: das VW-Werk in Zwickau.17.02.2025 | 4:29 min
ZDFheute: Laut Statistischem Bundesamt sind aber 2024 so viele Firmen pleitegegangen wie seit fast zehn Jahren nicht mehr. Die Wirtschaft ruft auf breiter Basis nach Entlastungen.
Butterwegge: Und die CDU will die Gesamtbelastung der Unternehmen mit Steuern auf maximal 25 Prozent senken. Das ist weniger, als viele Normalverdiener zahlen müssen.
Eine neoliberale Politik lässt den Staat zunehmend ausbluten. Dabei schreit Deutschlands marode Infrastruktur nach mehr staatlichen Investitionen.
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Die marode Infrastruktur in Deutschland ist nicht nur für die Wirtschaft ein großes Problem. Wie wollen die politischen Parteien das lösen?20.01.2025 | 33:08 min
In einer alternden Gesellschaft braucht es viel Geld für Pflege und medizinische Versorgung. Stattdessen verspricht man in populistischer Manier ständig Steuererleichterungen, die vor allem Wohlhabenden und Reichen zugutekommen, während Investitionen in Infrastruktur und Sozialstaat vernachlässigt werden.
ZDFheute: Die Parteien versprechen nicht nur Unternehmen, sondern auch den Bürgern mehr Netto vom Brutto. Wie passt das für Sie zusammen?
Butterwegge: Das ist Wahlkampfpopulismus. Sogar die SPD wirbt jetzt - wie früher die FDP - mit Slogans wie "Hier ist mehr Netto für dich drin". Als wäre Deutschland ein Supermarkt.
Am Tag vor der Bundestagswahl fanden deutschlandweit erneut Demonstrationen gegen Rechtsextremismus statt. In Hamburg kamen mehrere Tausend Menschen zusammen.22.02.2025 | 0:24 min
Das SPD-Programm heißt: "Mehr für dich. Besser für Deutschland". "Mehr für dich" appelliert an den persönlichen Egoismus, das Gegenteil von Solidarität. Da müsste stehen: "Mehr für jene, die auf uns angewiesen sind".
Nicht anders agiert die Union und noch härter die AfD. Aber wo soll das Geld für die nötigen Investitionen in Deutschlands Infrastruktur herkommen?
Das aktuelle ZDF-Politbarometer zeigt, dass sich 27 Prozent der Befragten noch unsicher sind, wen sie wählen werden. Stefan Leifert gibt eine Einschätzung.21.02.2025 | 2:21 min
ZDFheute: Wenn die Steuereinnahmen sinken, geht es womöglich doch über mehr Schulden?
Butterwegge: Diskussionen über ein Lösen der Schuldenbremse lenken nur von der Notwendigkeit einer Umverteilung des Reichtums ab.
Leiht sich der Staat bei den Hyperreichen Geld, statt sie angemessen zu besteuern, wächst die Ungleichheit in der Gesellschaft weiter. Die finanzkräftigen Kreditgeber werden durch die Zinsen noch reicher und die Armen am Ende zahlreicher.
ZDFheute: Was würden Sie der künftigen Bundesregierung empfehlen?
Butterwegge: Finanzstarke sollten über höhere Kapital- und Gewinnsteuern mehr Verantwortung für die Entwicklung unseres Gemeinwesens übernehmen.
Statt nach oben Druck aufzubauen, wird aber lieber nach unten getreten - sei es gegen Menschen im Bürgergeldbezug oder Geflüchtete, auch wenn sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen.
Die Bundestagswahl hat begonnen. Seit 8:00 Uhr sind die Wahllokale geöffnet. Scholz und Merz haben ihre Stimme bereits abgegeben. Alle News im Liveblog.