Desinformation aus Kreml: Propaganda-Schlacht um Merz' Kiew-Reise
Desinformation aus dem Kreml:Propaganda-Schlacht um Merz' Kiew-Reise
von Oliver Klein und Jan Schneider
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Der Kreml streut eine Geschichte über angeblichen Kokainkonsum von Macron, Merz und Starmer im Nachtzug nach Kiew. Doch die Vorwürfe sind frei erfunden.
Unter strengster Geheimhaltung sind Kanzler Merz, Frankreichs Präsident Macron und der britische Premier Starmer nach Kiew gereist - im Sonderzug mit dem Namen "Bravery Express".10.05.2025 | 6:08 min
Der Besuch der Staatschefs von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen in Kiew hat neuen Schwung in die Bemühungen um Frieden in der Ukraine gebracht. Bundeskanzler Friedrich Merz und die anderen Staats-und Regierungschefs hatten zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ultimativ eine 30-tägige Waffenruhe von Russland ab diesem Montag gefordert.
Den Kreml scheint die neue europäische Initiative derart unter Druck zu setzen, dass sich das russische Außenministerium genötig sah, eine neue Lawine an Desinformation loszutreten.
Maria Sacharowa teilte bei Telegram Bilder aus dem Sonderzug nach Kiew (Screenshot)
Quelle: Telegram / @MariaVladimirovnaZakharova
Kreml: "Unglaubliche Aufnahmen"
"Unglaubliche Aufnahmen", schreibt die dortige Sprecherin Maria Sacharowa in ihrem Telegram-Kanal. Dazu teilt sie ein Video und drei Fotos, die Merz, den britischen Premierminister Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Zug auf dem Weg in die Ukraine zeigen. Die drei stehen an einem Tisch in einem Zugabteil, posieren für Fotos.
Sie hätten unmittelbar vorher "eine Line gezogen", also Kokain eingenommen, behauptet Sacharowa. Davon seien sie so high geworden, "dass sie vergaßen, ihre Utensilien (Tütchen und Löffel) vor dem Eintreffen der Journalisten wegzuräumen", schreibt sie. Auf Standbildern des Videos markierte sie zwei Gegenstände auf dem Tisch mit roten Kreisen - angeblich eine kleine Tüte Rauschgift und einen Löffelspatel.
Die vieldiskutierte Szene im Video:
Die vieldiskutierte Szene im Video: Macron schnappt sich das Taschentuch, damit es beim Fototermin nicht im Bild liegt. Merz nimmt das Rührstäbchen an sich.12.05.2025 | 0:17 min
Über soziale Netzwerke werden sekündlich Fake News, Desinformation und Halbwahrheiten verbreitet. Die Redakteurinnen und Redakteure des Faktencheck-Teams von ZDFheute müssen abwägen, welche Falschinformationen sie aufgreifen und überprüfen - und welche nicht. Im konkreten Fall hat sich die Redaktion dazu entschieden, weil die Postings viele Millionen User beispielsweise auf der Plattform X erreicht haben, sodass selbst offizielle Stellen wie der Elysée-Palast sich zu einer Reaktion gezwungen sahen. Zudem wurde die Kampagne vom Kreml beziehungsweise Kreml-nahen Accounts gezielt befeuert.
Postings werden millionenfach angezeigt
Die Nachricht von den angeblich koksenden Spitzenpolitikern verbreitet sich in Sozialen Medien wie ein Lauffeuer. Der US-Verschwörungstheoretiker Alex Jones postete das Video bei X, schrieb dazu: "Auf dem Tisch liegt ein Tütchen mit weißem Pulver. Macron steckt es schnell ein, Merz versteckt den Löffel." Allein dieser Post wurde bislang rund 20 Millionen mal bei X gezeigt.
Auch bei Facebook, Instagram und Telegram geht die Story viral. Etliche Nutzer behaupten, der angebliche Löffel von Merz sei ein "Metall-Mikrolöffel", der in sogenannten "Snuff-Kits" zum Konsumieren von Kokain enthalten sei.
Ein Taschentuch auf dem Tisch im Zug nach Kiew wird vom Kreml zu Propagandazwecken genutzt
Quelle: AFP, Markierungen ZDF
Drogen-Vorwürfe frei erfunden
Die viel geteilten Aufnahmen selbst sind authentisch. Aber die Vorwürfe dazu entbehren jeder Grundlage: Vergrößerungen der Bilder legen nahe, dass das angebliche Kokain-Tütchen ein Taschentuch ist.
Auf hochaufgelösten Agenturfotos ist auch zu erkennen, dass es sich bei dem Gegenstand vor Merz definitiv nicht um einen Löffel handelt, sondern höchstwahrscheinlich um ein Rührstäbchen für ein Getränk.
In Sozialen Medien werden tausendfach Fotos eines sogenannten "Snuff-Kits" geteilt - ein Löffel aus einem solchen Kit (links) soll auf dem Tisch im Abteil liegen.
CDU veröffentlicht Klarstellung bei X
Auch Reportern, die die Spitzenpolitiker auf ihrer Reise begleiteten, ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen. "Da lagen Taschentücher auf dem Tisch", berichtet ZDF-Korrespondent Wulf Schmiese, der im Zug dabei war. Das sei auch nicht verwunderlich gewesen:
Es war kühl in der Nacht des Aufbruchs in Kiew, Merz hatte die ganze Zeit Taschentücher dabei und sich sogar während einer Pressekonferenz geschnäuzt.
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ZDF-Korrespondent Wulf Schmiese
Die Außenminister Europas erhöhen den Druck auf Russland: entweder eine 30-tägige Waffenruhe oder neue Sanktionen. Ob es in Istanbul zu Friedensverhandlungen kommt, ist unklar. 12.05.2025 | 3:10 min
Inzwischen veröffentlichte die CDU bei X eine Klarstellung zum vermeintlichen Koks-Tütchen: "Es ist tatsächlich nur ein Taschentuch. Aktuell wird von vielen Seiten versucht, die öffentliche Meinung durch Desinformationskampagnen zu beeinflussen", schreibt die Partei.
Posting der CDU bei X
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Auch der Élysée-Palast äußerte sich bereits offiziell bei X: "Wenn die europäische Einheit unbequem wird, geht die Desinformation so weit, dass ein einfaches Taschentuch als Drogen dargestellt wird", schrieb Macrons Team.
ZDF-Korrespondent Wulf Schmiese hat aufgeschrieben, wie er die Szene mit Merz, Macron und Starmer erlebt hat.
mit Video
Vorwürfe Teil des russischen Narrativs vom verkommenen Westen
Die Propaganda-Schlacht um die Kiew-Reise ist Teil eines immer wieder von Russland verbreiteten Narrativs vom verkommenen Westen. Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, schreibt bei Telegram, sie habe schon im Jahr 2022 erfahren, dass es in der EU "ganz normal" sei, Kokain zu nehmen: "Viele westliche Staatschefs konsumieren."
Ziel solcher Kampagnen ist es, das Vertrauen in westliche Regierungen gezielt zu untergraben und deren außenpolitisches Engagement im Ukraine-Krieg zu diskreditieren. Die Taktik soll nicht nur die eigene Bevölkerung beeinflussen, sondern auch westliche Gesellschaften spalten und Zweifel an politischen Entscheidungen säen.