Warum Russlands Präsident Putin den Ukraine-Krieg braucht

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Militärexperte über Russland:Warum Putin den Krieg in der Ukraine braucht

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Für Russland ist Krieg Frieden, sagt Militärexperte Keupp im ZDF-Interview. Inwiefern Putin den Krieg in der Ukraine braucht, um sein Regime zu stabilisieren - ein Überblick.

Militärexperte Dr. Marcus M. Keupp zu Gast bei ZDFheute live.
Sehen Sie hier das Interview mit dem Militärexperten Keupp in voller Länge. 10.07.2025 | 30:05 min
"Dieser Krieg sagt mehr aus über Russland als über die Ukraine", analysiert Militärexperte Dr. Marcus M. Keupp bei ZDFheute live. Was wir derzeit erleben, sei keine Machtdemonstration, sondern ein letztes Aufbäumen:

Ich denke, dass dieser Sommer der letzte sein wird, in dem Russland noch in der Lage sein wird, große Kräfte zu massieren, um den Krieg überhaupt noch irgendwie voranzubringen.

Marcus M. Keupp, Militärexperte

Während in früheren Kriegsphasen mechanisierte Offensiven dominierten, sehe man nun immer häufiger infanteristische Vorstöße ohne gepanzerten Schutz. Das sei ein deutliches Zeichen militärischer Erschöpfung. Genauso der massive Einsatz von Drohnen und Marschflugkörpern. "Das, was wir sehen, ist das, wozu die russische Rüstungsindustrie im Moment kurzfristig überhaupt noch in der Lage ist."
Billigdrohnen statt Großoffensiven - der Krieg offenbare den Zustand eines Landes, dessen militärische Kraftreserven, wirtschaftliche Ressourcen und gesellschaftlichen Strukturen gleichzeitig auf Verschleiß liefen. Und doch hält Kreml-Chef Wladimir Putin am Krieg fest. Warum?

Marcus Keupp sitzt an seinem Schreibtisch im Anzug und spricht in die Kamera, der Hintergrund ist verpixelt.
Quelle: ZDF

... arbeitet als Militärökonom an der Militärakademie der ETH Zürich (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich). Dort werden die Berufsoffiziere der Schweizer Armee aus- und weitergebildet. Die ETH Zürich ist ein international anerkanntes Kompetenzzentrum für Militärwissenschaften.

Braucht Putin den Ukraine-Krieg?

"Ich sage mittlerweile, dass der Krieg wahrscheinlich überhaupt nicht mehr enden wird, weil er für Russland mittlerweile das ideale Geschäftsmodell ist", stellt Militärexperte Keupp im ZDF-Interview fest. Was wie eine militärische Ausnahmesituation wirke, sei für das Regime längst innenpolitische Normalität.
Der Krieg sei für die "putinistische Autokratie" günstiger als Frieden, so Keupp. "Wenn der Krieg besser ist für Russlands innere Verhältnisse und der Stabilisierung der putinistischen Autokratie, dann ist das eine dystopische Stabilisierung. Krieg ist Frieden - zumindest innerlich, für Russland."
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Der permanente Ausnahmezustand schweiße das System zusammen, verschaffe dem Kreml politische Kontrolle und wirtschaftliche Bewegungsfreiheit. Russland sei durch den Krieg transformiert worden, heißt: politisch gleichgeschaltet, wirtschaftlich vollständig auf Rüstungsproduktion ausgerichtet. Ein Zurück scheine kaum mehr möglich.

Wie stabilisiert der Krieg Putins Macht in Russland?

Militärexperte Keupp argumentiert, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht nur ein außenpolitisches Mittel zur Machtdemonstration sei, sondern vor allem innenpolitisch stabilisierend auf das autoritäre System Putins wirke.

1. Die Macht wird zentralisiert

Laut Keupp ist die "Machtvertikale" Putins inzwischen tief in alle gesellschaftlichen und politischen Ebenen Russlands vorgedrungen. Die formale Struktur eines föderalen Staates existiere zwar weiterhin, doch faktisch seien alle Entscheidungskompetenzen in Moskau konzentriert.

Russland ist nur noch auf dem Papier eine Föderation. Putin regiert zentralistisch durch, wie einst in der Sowjetunion.

Dr. Marcus M. Keupp, Militärexperte

2. Russland als dualer Staat

Keupp beschreibt Russland als "dualen Staat", in dem föderale Institutionen wie die Duma oder Gerichte lediglich pro forma existierten. Es ähnele der nationalsozialistischen Diktatur, in der die Weimarer Verfassung formal ebenfalls bestehen blieb, um dem totalitären System einen Anschein von Legalität zu geben.
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In Russland funktioniere das ähnlich: Die eigentliche Macht liege bei den sogenannten Silowiki (Sicherheitseliten). "Es ist interessant, wie sich die Geschichte reimt, im Motiv des dualen Staates", merkt Keupp an.

3. Kriegswirtschaft als Motor autoritärer Stabilität

Ein drittes stabilisierendes Element des Putin-Regimes sei die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft. Sie erlaube es dem Kreml, enorme staatliche Investitionen zu tätigen - vor allem im Rüstungssektor - ohne sich demokratischer Kontrolle stellen zu müssen.
Mit staatlichen Aufträgen und versteckter Inflation würden Unternehmen finanziert, Arbeiter bezahlt und Soldaten mit hohen Geldsummen an die Front gelockt. "Das könnten sie in einer funktionierenden Zivilgesellschaft nicht tun. Es würde zu massiven Protesten kommen."
Doch Putin stehe vor einem unlösbaren Dilemma. Er könne nicht gleichzeitig großflächige Offensiven führen und die Rüstungsproduktion steigern. "Russland blutet von innen aus", so Keupp weiter. Das System beginne, sich selbst zu verschlingen. Inzwischen erkenne selbst der Kreml die Auswirkungen in der Demografie:

Die demografischen und wirtschaftlichen Probleme bestimmen zunehmend die Art und Weise, wie Russland Krieg führt oder wozu es überhaupt noch in der Lage ist.

Marcus M. Keupp, Militärexperte

Wie könnte es weitergehen?

Der Militärexperte warnt davor, sich Illusionen über einen baldigen Frieden zu machen. "Es ist sehr schwer, sich ein Russland vorzustellen, das nicht mehr Krieg führt", betont er. Selbst wenn der Krieg an Intensität verlieren sollte, sei nicht mit einer Entspannung zu rechnen. Vielmehr werde Russland weiter aufrüsten und versuchen, seine Macht auch in anderen Regionen zu projizieren - etwa im Baltikum, in Georgien oder Zentralasien.
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Russland sei kein post-sowjetischer Staat im klassischen Sinn, sondern ein neues, zutiefst autoritäres Gebilde. "Es ist nicht das romantische Russland, das so mancher, der in der Vergangenheit stecken geblieben ist, imaginisiert. Es ist auch nicht die Sowjetunion", stellt Keupp klar. Vielmehr erinnere es zunehmend an die Zarenzeit: An ein imperiales Russland, das nach außen aggressiv und nach innen repressiv agiert.
Das Interview führte Moderatorin Christina von Ungern-Sternberg, zusammengefasst hat es Redakteurin Katharina Schuster.
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