Schwarz-Rot: Wirtschaft vergibt nach 100 Tagen die gelbe Karte

Analyse

100 Tage Bundesregierung:Wirtschaft bilanziert: Gelbe Karte für Schwarz-Rot

von A. S. Feil, H. Kruse, E. Demirbaş, L. Ozdoba, H. Piel
|

100 Regierungstage - Die Wirtschaft zieht Bilanz. Erste Entlastungen sind da, doch das reicht nicht. Verbände fordern schnelle Reformen, Kostensenkung und weniger Bürokratie.

Lars Klingbeil und Friedrich Merz in der 19. Sitzung des 21. Deutschen Bundestages im Reichstagsgebaeude. Berlin, 11.07.2025
Bei ihrem Amtsantritt hat die schwarz-rote Bundesregierung unter anderem angekündigt die Wirtschaft anzukurbeln. Doch wie fällt die Bilanz nach den ersten 100 Tagen aus?13.08.2025 | 1:29 min
"Wir machen das schnörkellos", erklärte Kanzler Friedrich Merz (CDU) im April, als er den Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung vorstellte. Das bescheidene Versprechen darin: klare Priorität für Wirtschaftswachstum. Einige Maßnahmen für Unternehmen hat die Regierung bereits auf den Weg gebracht.

  • Investitionsanreize: Durch degressive Abschreibungen von bis zu 30 Prozent pro Jahr für Ausrüstungsinvestitionen bis Ende 2027 belohnt die Regierung Firmen, die investieren.

  • Steuerentlastungen: Ab 2028 will die Koalition die Körperschaftssteuer schrittweise von 15 auf zehn Prozent senken. 

  • Energiekosten: Für Unternehmen in der Industrie sowie der Land- und Forstwirtschaft bleibt die Stromsteuer dauerhaft niedriger. Der Bund übernimmt außerdem mehr Kosten für den Ausbau der Stromnetze. Ab 2026 soll zudem die Gasspeicherumlage wegfallen. Das könnte Gas und dadurch auch Strom günstiger machen.

Diese Maßnahmen kommen gut an. In einer Studie des Ifo-Instituts sieht etwa die Hälfte der befragten Ökonomen zumindest kurzfristig positive Effekte. Mittelfristig überwiegt jedoch die Skepsis, es fehle vor allem an Strukturreformen. Alexander von Preen, Präsident des Handelsverbands (HDE), bilanziert: "Außenpolitisch in Europa und international hat man sich sehr gute Noten verdient. Das hat wirklich sehr gut geklappt."

Wir sind wieder wer in Europa und international. Das ist sehr gut angekommen.

Alexander von Preen, Präsident des Handelsverbands HDE

Im Inland sieht er jedoch noch viele offene Aufgaben für die Regierung.
Bundeskanzler Merz
Seit 100 Tagen ist Merz Bundeskanzler. Auf internationaler Bühne kann der neue Kanzler punkten - national knirscht es in der Koalition mit der SPD und auch innerhalb der Union.13.08.2025 | 2:12 min

100 Tage Schwarz-Rot: Wirtschaft sieht Luft nach oben

Denn trotz dieser ersten Schritte stellt die Wirtschaft der Regierung nach 100 Tagen ein eher negatives Zwischenzeugnis aus. Der Bundesverband Mittelstand (BVMW) zeigt der Regierung dabei die "gelbe Karte".
Hauptkritik: Versprechen bleiben zu oft unerfüllt. Bürokratie, hohe Energiekosten und steigende Sozialabgaben lähmen die Wirtschaft und schaffen ein Vertrauensdefizit, so der BVMW. Der Verband fordert "Taten statt Worte". Auch andere Verbände sehen Luft nach oben.
SGS Börse Sina Mainitz
Die ersten 100 Tage der Bundesregierung stoßen in der Wirtschaft auf ein "geteiltes Echo", berichtet Sina Mainitz. Kritisiert werde etwa, dass es weiterhin zu viel Bürokratie gebe.13.08.2025 | 1:19 min

Streitpunkt Stromsteuer

Kritik hagelt es, weil die Stromsteuersenkung nicht für alle gilt. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sieht darin eine verpasste Entlastungschance und verlorene Glaubwürdigkeit.
Der Einzelhandel spricht von einem Wortbruch, der die Branche jährlich rund 700 Millionen Euro koste. Dieses Geld fehle für Investitionen.

Bürokratieabbau stockt

Viele Unternehmer und Selbstständige fühlen sich durch neue Vorschriften weiter belastet. Die freiberufliche Tierärztin Maren Püschel berichtet: "Ich habe leider den Eindruck, dass es eher immer mehr Vorgaben und Pflichten gibt." Sie sei Tierärztin, weil sie am Tier arbeiten wolle und dort werde sie gebraucht. Doch inzwischen arbeite sie immer mehr am Schreibtisch, das koste wertvolle Zeit.

Ich würde mir wünschen, dass den Selbständigen mehr Vertrauen entgegengebracht wird und nicht mit Überregulierungen alles im Kleinsten geregelt wird.

Maren Püschel, Tierärztin, Kleintierklinik Wasbek

So sieht es auch Stephan Hofmeister, Präsident des Bundesverbands der Freien Berufe (BFB): "Wir brauchen eine schlanke, moderne Verwaltung. Digitalisierung. Und dort brauchen wir jetzt ganz konkrete, messbare Maßnahmen, die auf der Straße ankommen." Laut BFB wird bis zu 30 Prozent der Arbeitszeit in Betrieben für Bürokratie aufgewendet. Der HDE beklagt sogar eine Tendenz zum Aufbau statt Abbau von Bürokratie.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Deutschland, Berlin, Schloss Bellevue, Vorstellung des Abschlussberichts der Initiative für einen handlungsfähigen Staat mit anschließender Diskussion
Die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" empfiehlt der Regierung 35 Maßnahmen zur Staatsmodernisierung - darunter eine zentrale Plattform für Sozialleistungen.14.07.2025 | 2:48 min

Fachkräfte und Arbeitszeiten

Püschel plädiert zudem für bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hohe Teilzeitquoten verschärfen den Personalmangel, sagt sie. Bessere Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten könnten helfen.
Ein weiteres Problem: der fehlende Mutterschutz für Selbstständige. Er schrecke Frauen häufig ab, sich beispielsweise für die Tiermedizin zu entscheiden.
Friedrich Merz sitzt alleine auf der Regierungsbank
Einen Aufbruch und geräuschloses Regieren - das haben Kanzler Merz und die neue Bundesregierung bei ihrem Start versprochen. Wo steht Schwarz-Rot nach den ersten 100 Tagen?13.08.2025 | 3:18 min

Hohe Lohnnebenkosten belasten

Die Wirtschaft kritisiert zudem die hohen Sozialabgaben. Sie gefährdeten Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit und könnten Arbeitsplätze kosten. Der HDE fordert, eine Obergrenze von 40 Prozent festzulegen. Auch der Deutsche Mittelstandsbund (DMB) wünscht sich niedrigere Lohnnebenkosten als wichtige Entlastung für Unternehmen.
Im Gesamtbild zeigt sich: Die Wirtschaft würdigt erste Entlastungen, doch Tempo und Tiefe reichen nicht. Gefordert sind klare Entscheidungen, spürbare Kostensenkungen und weniger Bürokratie. Nur so könne der Aufschwung gelingen.

100 Tage Schwarz-Rot
:Glanz auf der Weltbühne, verknotet im Kleinen

Schwarz-Rot wollte viel Großes, verlor sich aber oft im Kleinen. Höchste Zeit, dass die Merz-Klingbeil-Koalition die Reformen anpackt, wie sie es vor 100 Tagen versprochen hatte.
von Wulf Schmiese
Die Spitzen von Union und SPD stellen den Koalitionsvertrag vor
Analyse

Schwarz-Rot und die Wirtschaft