Sozialversicherungen: Wirtschaftsweise warnt vor "Pulverfass"

Interview

Wirtschaftsweise zu Sozialsystem:Schnitzer warnt vor "politischem Pulverfass"

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Die schwarz-rote Regierung muss die Wirtschaft wieder ans Laufen kriegen, fordert Wirtschaftsweise Schnitzer. Kritisch sieht sie "Wahlgeschenke", die kein Wachstum erzeugen würden.

Krankenkassenkarte und Geld
Statt Wahlgeschenken brauche es eine sozial gerechte Reform der Sozialversicherungen, mahnt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.
Quelle: Imago

Für die bisherige Wirtschaftspolitik stellt Monika Schnitzer der schwarz-roten Koalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ein gemischtes Zeugnis aus. Im Interview mit ZDFheute fordert die Vorsitzende des Sachverständigenrats eine schnelle Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Schnitzer, die am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung "maybrit illner" zum Thema "Streit statt Aufbruch - bekommt Schwarz-Rot die Kurve?" zu Gast ist, fordert zudem grundlegende Reformen bei den Sozialversicherungen, die sozial gerecht sein müssten.
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ZDFheute: Friedrich Merz hat versprochen, dass die Koalition bis zur Sommerpause einen Stimmungsumschwung erreichen möchte. Hat sie das geschafft?
Monika Schnitzer: Ich glaube, das Bild ist gemischt. Was wirklich gleich für einen Stimmungsumschwung gesorgt hat, ist die Reform der Schuldenbremse. Das halte ich persönlich für eine sehr kluge Entscheidung. Dadurch entsteht der finanzielle Spielraum, um vieles nachzuholen, was lange versäumt wurde, insbesondere die Modernisierung der Infrastruktur.
Weniger glücklich ist, dass man sich bei den Koalitionsverhandlungen auf viele Wahlgeschenke verständigt hat, viele davon wurden von der CSU gefordert.

Berlin: Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa

... ist Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2022 ist sie die Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft, dem sie seit April 2020 angehört. Im Januar 2023 übernahm sie zudem den Co-Vorsitz des Deutsch-Französischen Rates der Wirtschaftsexperten.

Monika Schnitzer ist seit 20 Jahren in der Politikberatung aktiv. 2005 wurde sie mit dem Bundesverdienstorden am Bande und 2012 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet.

Quelle: Sachverständigenrat Wirtschaft

ZDFheute: Sie sprechen den Agrardiesel an, die Erhöhung der Pendlerpauschale, die Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie und die Mütterrente, die nun sogar früher kommen soll. Was ist das für ein Signal?
Schnitzer: Das zeigt, dass man trotz eigentlich knapper Kassen Klientel-Geschenke verteilt. Das sind alles keine Ausgaben, die Wachstum erzeugen.

Sinnvoller wäre es gewesen, die Stromsteuer für alle zu senken, auch für den Mittelstand und die privaten Haushalte.

Monika Schnitzer, Wirtschaftsweise

Die Sendung "maybrit illner" mit dem Thema "Streit statt Aufbruch - bekommt Schwarz-Rot die Kurve?" sehen Sie diesen Donnerstag, 24. Juli 2025, um 22:15 Uhr im ZDF live im TV und auf der ZDF-Streamingplattform, auch auf Abruf.

Es diskutieren: Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU), Bundesbauministerin Verena Hubertz (SPD), die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer und der Journalist Robin Alexander.

ZDFheute: Ist da ein Wahlversprechen gebrochen worden, weil die Stromsteuer nicht für Privathaushalte und Teile der Wirtschaft gesenkt wird?
Schnitzer: Der Mittelstand ist natürlich verärgert, und das aus gutem Grund.
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ZDFheute: Im Raum steht auch die Frage nach großen Strukturreformen, die vor allem bei den Sozialkassen unabdingbar sind. Kann diese Koalition die Kraft finden, dort zu handeln?
Schnitzer: Das ist sehr zu hoffen. Die Frage ist, ob die Wählerschaft den Ernst der Lage erkennt: dass immer weniger junge Menschen mit ihren Beiträgen die Renten, Kranken- und Pflegekosten für immer mehr Ältere stemmen müssen.

Wir müssen das ganze System der Sozialversicherungen auf den Prüfstand stellen, schauen, wie wir Leistungen effizienter erbringen können und wo eingespart werden muss.

Monika Schnitzer, Wirtschaftsweise

Es wäre jedenfalls sozial ungerecht, wenn nur die junge Generation diese zusätzliche Last tragen müsste. Die kann am wenigsten dafür, dass das Umlagesystem an seine Grenzen stößt.
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Deshalb müssen auch die Babyboomer an den steigenden Lasten beteiligt werden. Wenn nicht bald die notwendigen Reformschritte eingeleitet werden, werden die Sozialversicherungen zum politischen Pulverfass.

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ZDFheute: Deutschland steckt weiterhin in der Krise. In der letzten Prognose der OECD werden die Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft für dieses Jahr von 3,1 Prozent auf 0,4 Prozent heruntergestuft. Wann geht es wieder aufwärts?
Schnitzer: Es ist richtig: Zurzeit werden Arbeitsplätze abgebaut, weitere Entlassungen drohen. Durch den aktuellen Zollkonflikt mit den USA ist die Wirtschaft natürlich sehr verunsichert und hält sich mit Investitionen zurück. Man muss deshalb schnellstens dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt.
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ZDFheute: Ein Grund, warum die OECD die Konjunktur-Prognose nach unten geschraubt hat, ist in der Tat auch der Zollstreit mit den USA. Ist die EU bei den Verhandlungen gut aufgestellt?
Schnitzer: Wenn überhaupt jemand, dann können China und die EU dagegenhalten. Wir sind neben den USA die größten Wirtschaftsräume. Das gibt uns Verhandlungsmacht.
Ein Verhandlungsergebnis kann nicht so aussehen, dass sich Trump mit allen seinen Forderungen durchsetzt und die EU einfach nachgibt. Zumal Trump sich mit seinen Zöllen selbst schaden würde.

Meine große Hoffnung ist deshalb, dass irgendwann die Märkte Trump sagen, so geht es nicht weiter.

Monika Schnitzer, Wirtschaftsweise

Das Interview führte Kai Stenzel aus der Redaktion "maybrit illner".

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