Aufarbeitung der NS-Verbrechen:80 Jahre Nürnberger Prozesse: "Es waren wir Deutsche"
von Christoph Söller
Niklas Frank ist der Sohn des im Nürnberger Prozess verurteilten "Schlächters von Polen". Frank erinnert an die Prozesse und mahnt, die Nazi-Verbrechen nicht zu verdrängen.
Am 30. September und 1. Oktober 1946 wurden die Urteile gegen die Angeklagten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse verkündet. (Archivbild)
Quelle: AP"Kommt ruhig näher. Ich bin nur der Sohn eines Massenmörders, nicht der Mann selbst", sagt Niklas Frank und lächelt. Fast ehrfürchtig bilden die Schüler der 13. Jahrgangsstufe des Paul-Pfinzing-Gymnasiums einen Halbkreis um den 86-Jährigen. Niklas Frank, weißer Bart, dunkles Sakko, die Hände um den Knauf seines Gehstocks geklammert, steht neben einer alten amerikanischen Munitionskiste.
Sie ist ein Ausstellungstück im "Memorium Nürnberger Prozesse", einem Museum, das sich einem kurzen, aber besonderen Kapitel deutscher Geschichte widmet. In solchen Munitionskisten, erklärt Andrea Betz, Kuratorin für Erinnerungskultur, haben die Amerikaner juristisch relevante Dokumente gesammelt - Erlasse, Befehle, alles, was vor Gericht helfen könnte.
"Die Nazis haben viele Dokumente angefertigt", erklärt sie, "sie haben ja auch angegeben mit ihren Morden." "Es waren nicht die Nazis, es waren wir Deutsche", korrigiert Frank. Ein Satz, der seine ganze Lebenshaltung widerspiegelt.
Wie tickten die Nazis? Dieser Frage geht der US-Psychologe Gustave M. Gilbert während des Nürnberger Prozesses nach. In intensiven Gesprächen studiert er die Psyche der Haupttäter.
13.09.2021 | 43:54 minEin Leben gegen das Schweigen
Niklas Frank ist Autor, Aufklärer und Sohn von Hans Frank, bekannt als "Schlächter von Polen". 1939 wird er geboren, er wächst in Krakau auf dem Wawel-Schloss auf, dem ehemaligen Sitz der Könige von Polen. Sein Vater ist der Generalgouverneur der von der Wehrmacht besetzten, aber nicht annektierten Gebiete Polens, ein Mann, der unter den vielen deutschen Kriegsverbrechern mit seiner Grausamkeit heraussticht.
"Mein Vater ist für alle Verbrechen, die wir Deutschen in Polen begangen haben, verantwortlich", sagt Niklas Frank. Und damit auch für den Massenmord von Auschwitz. Nach Kriegsende wird Hans Frank für schuldig befunden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Im Oktober 1946 wird er gehängt - Niklas Frank ist damals sieben Jahre alt.
Sein Vater wurde bei den Nürnberger Prozessen für grausame Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs verurteilt. Niklas Frank klärt heute darüber auf und appelliert an das Erinnern.
Heute steht er, umgeben von Schülerinnen und Schülern, im Saal 600 - jenem holzvertäfelten Raum im Nürnberger Justizpalast, in dem vor 80 Jahren die Prozesse begannen.
Das Erinnern darf nie aufhören
Eine Schülerin will wissen, was er fühlt, wenn er über seinen Vater redet. "Immer noch eine Wut", sagt Niklas Frank und zieht die Stirn in Falten. "Warum haben wir das alles gemacht?" Es sind Fragen, die ihn ein Leben lang begleiten und prägen. Niklas Frank durchforstet Archive, liest die akribisch geführten Diensttagebücher seines Vaters, spricht mit Verwandten und Zeitzeugen. Um die Familiengeschichte auf- und verarbeiten zu können, schreibt er ein Buch, "Der Vater - eine Abrechnung".
Ein Buch "gegen die Stille im Land", sagt Frank heute. Für ihn ist Aufklärung über den Nationalsozialismus eine Mission, die nie endet. Ein Leben lang setzt er sich unermüdlich gegen Populismus und Rechtsextremismus ein. Auch heute noch spricht er mit Schülern, hört sich geduldig ihre Fragen an, erzählt und mahnt.
Im November 1945 begannen die "Nürnberger Prozesse" zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen mit dem Verfahren gegen 24 Hauptkriegsverbrecher.
20.11.2020 | 2:13 minDie Nürnberger Prozesse wirken bis heute nach
Vor 80 Jahren, als die Prozesse begannen, stellte sich die Frage, wie man die Täter bestrafen soll, die einen Weltkrieg und den Holocaust zu verantworten haben, und die das industrielle Morden perfektioniert hatten. Die Nürnberger Prozesse waren damals juristisches Neuland.
250 Journalisten berichteten vom Prozessauftakt am 20. November 1945. Die Welt wollte dabei sein, wenn die führenden Nazis zur Rechenschaft gezogen wurden. Einen internationalen Strafgerichtshof gab es noch nicht, noch nicht einmal eine genaue Definition, was ein Genozid ist.
Von den 24 Angeklagten wurden zwölf zum Tode und sieben zu Freiheitsstrafen verurteilt. Drei Angeklagte wurden freigesprochen, zwei Verfahren ohne Verurteilung eingestellt. Es war der Versuch, Worte für das Unfassbare zu finden. Es saßen nicht nur Männer wie Hans Frank auf der Anklagebank, sondern ein System. Die Nürnberger Prozesse waren das letzte Kapitel des deutschen Zivilisationsbruchs und zugleich die Geburtsstunde des modernen Völkerrechts.
Christoph Söller ist Redakteur im ZDF-Landesstudio Bayern.
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