Völkerrecht unter Druck: "Es gibt keine Weltpolizei"

80 Jahre Londoner Abkommen:Völkerrecht unter Druck: "Gibt keine Weltpolizei"

von Philip Traxel
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Vor 80 Jahren wurde mit dem Londoner Statut der Grundstein für das Völkerstrafrecht gelegt - und damit auch für die Nürnberger Prozesse. Doch das System steht heute unter Druck.

International Military Tribunal (IMT), Nürnberger Prozesse
Machte den Weg für die Nürnberger Prozesse frei: Die Verabschiedung des Londoner Abkommens vor 80 Jahren. (Archivbild)
Quelle: Imago

Nur wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, am 8. August 1945, unterzeichneten Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion das Londoner Abkommen. Es bildete die juristische Grundlage für die bekannten Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in denen ab Ende 1945 führende Nationalsozialisten für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden.
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Völkerrecht: Weg zur internationalen Verfolgung von Kriegsverbrechen

Noch während des Zweiten Weltkriegs bekannten sich die Alliierten zur strafrechtlichen Verfolgung der NS-Verbrechen. Auf der Konferenz von San Francisco im Mai 1945 beschlossen sie schließlich, die Hauptkriegsverbrecher vor ein internationales Militärgericht zu stellen. Neu war daran die individuelle Strafbarkeit im Völkerrecht, sagt die Historikerin Alexa Stiller von der Universität Zürich:

Bahnbrechend war, dass erstmals Regierungsmitglieder und hohe Generäle für staatliches Handeln strafrechtlich verantwortlich gemacht wurden.

Alexa Stiller, Historikerin

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse begannen am 20. November 1945. Der Hauptprozess dauerte bis zum 1. Oktober 1946 an, die Nachfolgeprozesse endeten 1949. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof mussten sich führende Nationalsozialisten für neu definierte Tatbestände wie "Verbrechen gegen den Frieden", "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verantworten.

Im Hauptprozess ergingen zwölf Todesurteile, drei lebenslange Haftstrafen, vier weitere langjährige Haftstrafen und drei Freisprüche. Organisationen wie die SS und die Gestapo wurden zu verbrecherischen Organisationen erklärt.

Der Internationale Militärgerichtshof war jedoch nur als temporäres Gericht konzipiert, das seine Arbeit nach Abschluss der Prozesse niederlegte. Erst in den 1990er Jahren erlebte das Völkerstrafrecht eine Wiederbelebung, als die Vereinten Nationen Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) einsetzten.
Diese wandten völkerstrafrechtliche Prinzipien erstmals auf innerstaatliche Konflikte an und präzisierten auch die Strafbarkeit sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten. Laut Rechtswissenschaftlerin Elisabeth Baier handelte es sich um die Blütezeit des Völkerstrafrechts. "Es war die Phase, in der sich das Völkerstrafrecht am schnellsten weiterentwickelt hat", sagt Baier.
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Wie der Internationale Strafgerichtshof entstanden ist

Aufbauend auf den Erfahrungen dieser Tribunale wurde 1998 das Römische Statut verabschiedet. Es trat 2002 in Kraft und war Grundlage für die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag. Dieser ist seitdem für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und seit 2018 auch für das Verbrechen der militärischen Aggression zuständig.
"Das Römische Statut ist die eigentliche Geburtsstunde des Völkerstrafrechts. Alles davor war temporär", sagt Historikerin Alexa Stiller. Der Gerichtshof wird jedoch nur aktiv, wenn Staaten selbst nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine Strafverfolgung durchzuführen.
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Deutschlands Vorreiterrolle beim Weltrechtsprinzip

Deutschland gehörte zu den engagiertesten Unterstützern des Völkerstrafrechts. Mit dem Völkerstrafgesetzbuch wurden die Straftatbestände des Römischen Statuts in nationales Recht übernommen.
Deutschland hat zudem das Weltrechtsprinzip eingeführt. So können auch Menschen vor deutsche Gerichte gestellt werden, die sonst überhaupt keinen Bezug zu Deutschland haben, erklärt Völkerstrafrechtsexpertin Baier. Die Bundesanwaltschaft hat seither mehrere Verfahren eingeleitet, etwa zu Kriegsverbrechen in Syrien oder in der Ukraine.
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Warum das Völkerstrafrecht an Grenzen stößt

Trotz aller Fortschritte stößt das Völkerstrafrecht an Grenzen, wenn es an der Mitwirkung der Staaten fehlt. Völkerrechtlerin Baier betont, dass das Völkerstrafrecht besonders hierauf angewiesen ist. Gerade der Vollzug von Entscheidungen des IStGH ist ein Problem. Denn:

Es gibt keine Weltpolizei.

Elisabeth Baier, Völkerrechtlerin

Auch der IStGH selbst steht unter Druck. Im Schnitt urteilt das Gericht nur einmal pro Jahr, was Fragen der Legitimität aufwirft. Zudem sah sich das Gericht lange Zeit mit dem Vorwurf der Selektivität konfrontiert. Denn viele Verfahren konzentrierten sich auf afrikanische Staaten.

Expertin: Staaten verlassen vermehrt "völkerrechtliche Verträge"

Die anfängliche Aufbruchsstimmung rund um das Völkerstrafrecht und den IStGH ist jedenfalls verflogen. "Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass man sich heute noch auf ein solches Statut einigen könnte", sagt Elisabeth Baier.
Dies liege daran, dass Staaten vermehrt aus völkerrechtlichen Verträgen aussteigen und sich in den Nationalismus zurückziehen würden, sagt die Expertin. Fest steht: Für ein funktionierendes Völkerstrafrecht ist der politische Wille unerlässlich. Breite globale Koalitionen waren bei den Nürnberger Prozessen, den Ad-hoc-Tribunalen der 1990er Jahre und der Gründung des IStGH vorhanden, wie Stiller hervorhebt. Aktuell suche man danach vergeblich.

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