30. Jahrestag Genozid in Srebrenica: Was ist damals passiert?
FAQ
30 Jahre nach dem Genozid:Was passierte 1995 in Srebrenica?
von Michael Sommer
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Vor 30 Jahren wurde in Srebrenica ein Völkermord an den Bosniaken begangen. Das schwerste Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Aufarbeitung dauert bis heute an.
Das Grafikvideo blickt 30 Jahre zurück: Nachdem bosnisch-serbische Truppen die Stadt am 11.7.1995 eingenommen hatten, ermordeten sie etwa 8000 bosnische Muslime.11.07.2025 | 1:27 min
Dreißig Jahre sind vergangen seit dem Völkermord von Srebrenica - der schlimmsten Gräueltat in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 8.000 Bosniaken wurden im Juli 1995 von bosnisch-serbischen Truppen ermordet. Wir blicken zurück auf die Ereignisse, zeigen die juristische Aufarbeitung und schauen uns an, warum die Erinnerung an Srebrenica bis heute politisch umkämpft ist.
Was geschah im Juli 1995 in Srebrenica?
Zwischen dem 11. und 22. Juli 1995 verübten bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladić in und um die ostbosnische Stadt Srebrenica den systematischen Mord an über 8.000 Bosniaken, also bosnischen Muslimen.
Srebrenica war damals eine von der UNO zur "Schutzzone" erklärte Stadt. Doch die rund 350 niederländischen Blauhelmsoldaten des "Dutchbat" waren weder ausreichend bewaffnet noch rechtlich befugt, einen Angriff zu verhindern.
Das Massaker von Srebrenica ist ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft, die sich nach vier Jahren Krieg auf dem Balkan entschließt einzugreifen.23.07.2020 | 44:55 min
Als Mladićs Truppen am 11. Juli 1995 die Stadt einnahmen, flohen etwa 25.000 Menschen zur UN-Basis im nahen Potočari. Tausende andere versuchten über Wälder das bosniakisch kontrollierte Gebiet zu erreichen.
Die serbischen Einheiten trennten Männer und Jungen von den Frauen, deportierten letztere und erschossen überwiegend die männlichen Zivilisten systematisch an abgelegenen Orten. Um das Ausmaß des Verbrechens zu verschleiern, wurden viele Leichen später aus Massengräbern exhumiert und umgebettet - eine Praxis, die auch nach Kriegsende fortgeführt wurde.
Warum gilt das Massaker als Völkermord?
Sowohl der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) als auch der Internationale Gerichtshof (IGH) erkannten Srebrenica rechtlich als Völkermord an. Grundlage dafür war die gezielte Ermordung eines Teils der bosniakischen Volksgruppe mit dem erklärten Ziel, sie dauerhaft aus der Region zu eliminieren.
Im Rahmen der juristischen Aufarbeitung wurden 20 Angeklagte speziell für Srebrenica vor Gericht gestellt, darunter General Mladić, der 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und Radovan Karadžić, der ebenfalls ein lebenslanges Urteil erhielt. Slobodan Milošević, der damalige serbische Präsident, starb 2006 vor Abschluss seines Prozesses. Insgesamt erhob das Tribunal Anklage gegen 161 Personen, von denen 90 verurteilt wurden.
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Welche Verantwortung tragen die Vereinten Nationen und andere Staaten?
Die Rolle der UN und der niederländischen Soldaten ist bis heute Gegenstand kontroverser Debatten. Niederländische Gerichte gaben den Niederlanden in mehreren Instanzen eine Teilschuld am Tod von etwa 300 Männern, denen die UN-Soldaten den Zutritt zur Basis verweigert hatten. Der Hohe Rat der Niederlande urteilte 2019, das Verhalten sei rechtswidrig gewesen, aber angesichts der militärischen Übermacht der Serben hätten die Männer "nur eine geringe Überlebenschance" gehabt.
Die internationale Staatengemeinschaft handelte auch politisch zögerlich. Eine britische UN-Resolution zur formellen Anerkennung von Srebrenica als Völkermord wurde 2015 durch ein Veto von Russland blockiert.
Im Juli 1995 verübten bosnisch-serbische Truppen in Srebrenica den systematischen Mord an über 8.000 Männern und Jungen. 30 Jahre später werden wieder neue identifizierte Opfer beerdigt.
11.07.2025 | 2:47 min
Wie wird heute an Srebrenica erinnert - und warum bleibt es politisch umkämpft?
Seit 2003 erinnert ein Gedenkfriedhof in Potočari in Bosnien und Herzegowina an die Opfer. Dort werden jährlich am 11. Juli neu identifizierte Leichname beigesetzt, begleitet von offiziellen Gedenkveranstaltungen. Auch international - etwa im Deutschen Bundestag - findet jährlich eine öffentliche Erinnerung statt.
Doch die politische Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen. Hochrangige serbische Politiker verweigern bis heute die Anerkennung des Verbrechens als Genozid. So hat Serbiens Präsident Aleksandar Vučić die juristische Einordnung als Völkermord nicht anerkannt. Auch der Präsident der Republika Srpska in Bosnien, Milorad Dodik, leugnet oder relativiert den Völkermord regelmäßig.
Wie bewerten Experten die Haltung der Politik?
Der Balkan-Experte Florian Bieber von der Universität Graz ordnet diese Haltung ein und sieht darin eine autoritäre Strategie der Geschichtspolitik:
Diese Art von Politik lebt davon, die eigene Opferrolle zu betonen, während gleichzeitig historische Schuld umgedeutet oder geleugnet wird.
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Florian Bieber, Universität Graz
Auch Politologe Vedran Džihić von der Universität Wien sieht darin ein tiefer liegendes ideologisches Muster:
Es gibt eine ideologische Allianz von sehr nationalistisch orientierten, autoritär denkenden, reaktionär agierenden Politikern, die die Werte und Normen des liberalen, europäischen, demokratischen Westens ad acta legen.
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Vedran Džihić, Universität Wien
Nach Einschätzung von Expertinnen und Experten erschweren Leugnungsstrategien die historische Aufarbeitung, behindern Prozesse gesellschaftlicher Versöhnung und belasten das Vertrauen in internationale Gerechtigkeitsmechanismen.
Srebrenica wird in diesem Zusammenhang häufig als Prüfstein für den europäischen Umgang mit Völkermord, Erinnerung und Verantwortung betrachtet.
Die EU berät über Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina. Viele Jahre musste das kleine Westbalkanland darauf warten. Aber will es überhaupt noch in die EU?
von Christian von Rechenberg
Quelle: dpa
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