Natan Sznaider: "Verzweiflung, die kaum noch einzufangen ist"
Interview
Israelischer Soziologe Sznaider:"Verzweiflung, die kaum noch einzufangen ist"
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Der israelische Soziologe Natan Sznaider bezeichnet sich selbst als "israelischer Patriot". Im Interview spricht er darüber, wie der Krieg seinen Blick auf sein Land verändert hat.
Natan Sznaider im Kulturzeit-Interview (ab 14:55 min): "Gewalt muss politischen Interessen untergeordnet sein und nicht umgekehrt."22.05.2025 | 37:19 min
Kulturzeit: Die Ereignisse in Nahost sind katastrophal für die Menschen vor Ort. Bei der Härte des israelischen Vorgehens taucht mitunter der Begriff der Rache auf. Würden Sie, was die Armee umsetzt, als Rache beschreiben?
Natan Sznaider: Rache spielt bestimmt eine große Rolle nach dem 7. Oktober. Und inzwischen ist das Vorgehen der israelischen Armee sogar jenseits von Rache sehr brutal und hat wahrscheinlich mit der berechtigten Form der Selbstverteidigung, die ja nach dem 7. Oktober natürlich gegeben war, nicht mehr viel zu tun.
Erste Hilfsgüter werden im Gazastreifen verteilt. UN-Chef Guterres kritisiert die von Israel zugelassenen Hilfen als unzureichend. Auch in Israel wird die Kritik an Netanjahus Kriegsführung lauter.23.05.2025 | 2:40 min
Kulturzeit: Wie verändert diese Kriegsführung Ihrer Ansicht nach auch die Idee des Staates Israel?
Sznaider: Israel kann kein pazifistischer Staat sein, das ist vollkommen klar. Wenn man im Nahen Osten überleben will, kann man kein Pazifist sein.
Aber Gewalt muss politischen Interessen untergeordnet sein und nicht umgekehrt.
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In gewissem Sinne ist der Staat Israel auch gegründet worden, damit jüdische Menschen in sich ruhen können, damit sie leben können und nicht nur kämpfen müssen. Diese Idee wird durch diesen Krieg vollkommen unterlaufen.
... ist emeritierter Professor für Soziologie der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Im vergangenen Jahr erhielt er den Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sznaider, 1954 in Deutschland geboren, lebt in Israel.
Kulturzeit: Gemeinsam mit dem Schriftsteller Navid Kermani haben Sie zuletzt in der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben: "… mit den nicht einmal mehr kaschierten Kriegsverbrechen und den Plänen zur ethnischen Säuberung von Gaza […] machen Israel und auch die USA mehr als deutlich, dass sie nicht mehr Teil einer demokratischen und zivilisierten Welt sein wollen". Wie viel Überwindung hat es Sie gekostet, das so zu formulieren?
Sznaider: Große Überwindung. Das können Sie mir glauben. Ich bin israelischer Patriot. Ich lebe in Israel, will auch weiterhin dort leben. Solche Sätze zu schreiben, ist nicht einfach. Ich erschrecke mich selbst auch, dass ich so etwas geschrieben habe. Aber es drückt eine Stimmung der Verzweiflung aus.
Wir leben in einer Welt, in der alles aus dem Ruder läuft und wir Intellektuellen oder Beobachter nicht mehr wissen, wie wir sie einordnen sollen.
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Einer Welt, in der wir nicht mehr die Instrumente haben, sie zu verstehen, weil wir in unserem Selbstverständnis Menschen sind, die rational sind, die zivilisiert sein wollen, die einen Begriff des Westens haben, auch wenn der ein bisschen schwammig ist. Wir stehen plötzlich vor den Ruinen dieser Welt und versuchen, kluge Sätze darüber zu schreiben, auch wenn wir gleichzeitig wissen, dass sie eigentlich nichts nützen.
Wir stehen vor diesen Prozessen mit einer Verzweiflung, die kaum noch einzufangen ist.
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Lange wurde Humanität angemahnt. Jetzt stellen viele EU-Länder das Partnerschaftsabkommen mit Israel in Frage, weil die Regierung Netanjahu Hilfslieferungen für Gaza blockiert.21.05.2025 | 3:28 min
Kulturzeit: Sie haben auch geschrieben: "Wenn die Sicherheit Israels Staatsräson ist, muss sich auch die deutsche Nahostpolitik im Interesse der Existenz Israels neu positionieren." Was fordern Sie, der Sie in Israel leben, da konkret?
Sznaider: Diese Formel der Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson ist eine sehr merkwürdige Formel, die die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 im israelischen Parlament so verwendete. Meiner Meinung nach müsste die deutsche Staatsräson sein, das Leben von jüdischen Menschen in Deutschland und deren Sicherheit zu garantieren und sich darauf zu konzentrieren, Angriffe auf jüdische Menschen in Deutschland abzuwenden, die in der letzten Zeit auch immer stärker geworden sind.
Es ist klar, dass es in Deutschland verschiedene Tabus gibt, Sprechtabus auch gegenüber Israel. Das ist aus der deutschen Geschichte vollkommen verständlich, dass diese Tabus nicht gebrochen werden können.
Aber gleichzeitig sollte man, wenn man wirklich ein Freund und Alliierter Israels ist, versuchen, die Handlungen dieses Staates im Moment einzuschränken.
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Seit anderthalb Jahren herrscht im Gazastreifen Krieg. Wer kann diesen Krieg stoppen? Und wie sähe eine Lösung aus? Mehr dazu im Podcast mit dem Korrespondenten Thomas Reichart. 22.05.2025 | 42:25 min
Kulturzeit: Derzeit werden Forderungen nach einem Boykott Israels lauter - gerade auch wieder um den Eurovision Song Contest. Wie stehen Sie zu kulturellen Boykotten?
Sznaider: Es geht nicht nur um den Eurovision Song Contest. Ich will hier ganz klar sagen, dass ich gegen jegliche Form von Boykott bin, politisch oder kulturell. Und dass ich glaube, dass diese Boykottbewegungen gegen Israel auch in vielerlei Hinsicht antisemitisch motiviert sind.
Kulturzeit: Nathan Sznaider, besten Dank für dieses Gespräch.
Sznaider: Ich danke Ihnen.
Das Interview führte 3sat-Kulturzeit-Moderatorin Nina Brunner, redaktionelle Bearbeitung: Ralf Rättig
Mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert. Noch immer sind nicht alle Geiseln frei - Israel fliegt weiter Angriffe auf Gaza.