Wunsch nach mehr Leistungsgerechtigkeit:Mehrheit befürwortet Sozialstaat, viele finden ihn zu teuer
von Andreas Weise
Bürgergeld, Wohngeld, Kindergeld: Der Sozialstaat hilft, soziale Ungleichheiten abzufedern. Viele stehen hinter diesem Grundgedanken. Gleichzeitig finden ihn viele zu teuer.
Die meisten Menschen in Deutschland befürworten den Sozialstaat, finden aber auch, dass die Kosten zu hoch sind. Mehr als die Hälfte denkt einer Studie zufolge, dass er faul mache.
23.10.2025 | 1:28 minEs ist der größte Einzeletat-Posten des Bundeshaushaltes - der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. 2025 gut 190 Milliarden und 2026 sogar noch etwas mehr - über 197 Milliarden Euro.
Dieser Etat finanziert vorrangig den Sozialstaat, einschließlich Bürgergeld und Wohngeld. Doch wie steht es um die Akzeptanz der Bevölkerung?
Viele Menschen befürworten Sozialstaat
Moritz Kuhn von der Universität Mannheim und das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) haben dazu über 5.000 Personen befragt - darunter allerdings keine Beamten oder Selbstständigen.
Die Zustimmung zum Sozialstaat sei sehr hoch, so Kuhn. So gaben 71 Prozent der Befragten an, ihn zu befürworten. Gleichzeitig empfanden 64 Prozent den Sozialstaat als zu teuer und bewerteten die Kosten als eine zu hohe Belastung für die Gesellschaft.
Linken-Politikerin Wissler hat bei "Lanz" erklärt, auch ihre Partei wolle den Sozialstaat reformieren. Ihr Konzept gehe jedoch nicht zulasten der finanziell Schwächsten.
18.09.2025 | 1:08 minBedürfnis nach Leistungsgerechtigkeit
Und dann haben die Forscher um Kuhn noch etwas herausgefunden:
Leute mit hohem Einkommen, die haben eigentlich ein sehr positives Bild vom Sozialstaat.
Moritz Kuhn, Ökonom, Universität Mannheim
"Auch am unteren Ende - die Leistungsbezieher sehen den Sozialstaat auch eher positiv. Die große Kritik am Sozialstaat kommt von den Niedrigeinkommensbeziehern, die Leute, die sich vielleicht jeden Tag denken müssen, 'warum gehe ich arbeiten und beziehe nicht stattdessen lieber Sozialleistungen'", erklärt Kuhn.
So stimmten der Aussage, Sozialleistungen würden faul machen, eine knappe Mehrheit zu. Bei Geringverdienern liegt der Anteil mit 64 Prozent am höchsten. Und selbst bei denen, die neben ihrer regulären Arbeit Zusatzleistungen beziehen - sogenannte Aufstocker -, stimmte knapp die Hälfte zu.
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Arbeitslosen wird oft vorgeworfen, sie seien unmotiviert und ungebildet. Doch viele Maßnahmen, die das ändern sollen, helfen ihnen kaum. Bildungsträger bieten fragwürdige Kurse an.
09.09.2025 | 8:20 min"Gerade wer trotz Arbeit nur wenig verdient, erlebt das Spannungsfeld zwischen Arbeit und Absicherung besonders deutlich", sagt der ebenfalls an der Studie beteiligte IAB-Forscher Jens Stegmaier. In dieser Gruppe sei der Wunsch nach mehr Leistungsgerechtigkeit besonders hoch.
Mehr als 500 Sozialleistungen nur vom Bund
In diesem Spannungsfeld spielt auch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle: Die schiere Menge an Leistungen, bei der Bürgerinnen und Bürger schnell den Überblick verlieren.
Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung wollte eigentlich in einer Erhebung Ausmaß und Wirkung aller Sozialleistungen berechnen. Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, stellt jedoch fest:
Die Vielzahl an Vorschriften und Leistungen ließ diese Aufgabe beinahe unlösbar erscheinen.
Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen
Statt einer Quantifizierung sei daher zunächst nur eine "Inventarliste" aller Sozialleistungen auf Bundesebene entstanden, erklärt Peichl.
Streit um den Sozialstaat: Können wir uns das noch leisten?
09.09.2025 | 5:32 minDabei zählte das Forschungsteam mehr als 500 verschiedene Sozialleistungen allein vom Bund. Hinzu kommen Extra-Leistungen von Bundesländern und Gemeinden. Ein schier undurchdringlicher Wust, der nur schwer zu durchdringen ist, findet Lily Fischer vom Münchner Ifo-Institut.
"Grundsätzlich ist es gut, wenn wir einen Sozialstaat haben, der Menschen in Notsituationen unterstützt", sagt sie. "Wenn aber die hohe Anzahl an Leistungen und die Komplexität dazu führt, dass Menschen gar nicht wissen, dass sie Leistungen in Anspruch nehmen könnten, dann stellt sich schon die Frage, ob man nicht über Pauschalierungen und Zusammenlegungen von Leistungen diskutieren sollte."
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