Nach Merz-Aussage: Ist der Sozialstaat wirklich zu teuer?

Analyse

Merz: "Nicht mehr finanzierbar":Ist der Sozialstaat wirklich zu teuer?

Lars Bohnsack
von Lars Bohnsack
|

Bundeskanzler Merz meint, der Sozialstaat sei zu teuer und nicht mehr finanzierbar. Tatsächlich ist der relative Anteil der Bundesausgaben aber zurückgegangen.

Bundeskanzler Friedrich Merz spricht in ein Mikrofon (Archivbild)

Kanzler Friedrich Merz hält den "Sozialstaat, wie wir ihn heute haben (...), für nicht mehr finanzierbar".

Quelle: ddp

Seit Jahren behaupten Teile der Wirtschaft und der Politik, der Sozialstaat sei zu teuer. Dem hat sich nun auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) angeschlossen. Auf dem Landesparteitag der niedersächsischen CDU forderte er eine Reformdebatte.

Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.

Friedrich Merz, CDU

Aber stimmt das so überhaupt? Die Zahlen der letzten Jahre geben das jedenfalls nicht her. Die Überschriften sind jedes Jahr die gleichen und erzeugen auch immer die gleichen Reaktionen.

Lars Klingbeil und Friedrich Merz in der 19. Sitzung des 21. Deutschen Bundestages im Reichstagsgebaeude. Berlin, 11.07.2025

Bundeskanzler Merz berät sich mit den Spitzen der Union. Es geht um die Einigkeit in der Koalition mit der SPD – besonders beim Thema Sozialstaat fehlt diese.

25.08.2025 | 1:44 min

Beispiel 1: Das Bürgergeld

Beim Bürgergeld und beim Bundeszuschuss zur Rente wird Jahr für Jahr von einem Rekordhoch gesprochen und geschrieben. Nominell mag das auch stimmen, Alarmismus scheint dennoch nicht angebracht, denn der notwendige Zusammenhang mit dem Bundeshaushalt wird meistens komplett ausblendet.

Zwei Beispiele mit vielen Zahlen, bei denen es sich dennoch lohnt, genauer hinzuschauen. Als das Bürgergeld 2024 auf 46,9 Milliarden Euro anstieg, war der Aufschrei unüberhörbar. Von ausufernden Kosten war die Rede, die Forderungen nach Streichungen ließen nicht lange auf sich warten.

Markus Söder im Sommerinterview mit dem Moderator Wulf Schmiese

Die Kosten für das Bürgergeld sind gestiegen. Das müsse weniger werden, sagte gestern CSU-Chef Söder im ZDF. Er wolle allen ukrainischen Geflüchteten das Bürgergeld streichen.

04.08.2025 | 1:31 min

Anteil am Bundeshaushalt gesunken

Ein Blick in die Archive des Arbeits- und Sozialministeriums zeigt: 2014 hat der Bund 41,3 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld 2 ausgegeben, also für den Vorgänger des Bürgergelds. 2024 waren es 46,9 Milliarden Euro, also 5,6 Milliarden mehr.

Tatsächlich ist aber auch der Bundeshaushalt angewachsen. Lag dieser 2014 noch bei 296,5 Milliarden Euro, hatte er 2024 eine Höhe von 465,7 Milliarden Euro. In Prozentzahlen heißt das: Der Anteil für das Bürgergeld ist gemessen am Bundeshaushalt in zehn Jahren von 14 Prozent auf zehn Prozent gesunken.

Hand hält Lupe über das Wort Bürgergeld auf dem Hauptantrag auf Bürgergeld der Agentur für Arbeit

Die Probleme sind bereits seit zehn Jahren bekannt. Nun will Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) handeln und konsequent gegen systematischen Sozialleistungsbetrug vorgehen.

15.06.2025 | 3:59 min

Beispiel 2: Die Renten

Ähnlich sieht es bei den Renten aus. Auch hier wird immer über neue Höchstwerte bei den Bundesmitteln für die Rentenversicherung berichtet. Nimmt man die gleiche Berechnung wie beim Bürgergeld, sank der Anteil der Bundeszuschüsse an den Ausgaben der Rentenversicherung in diesem Zeitraum von 23,8 Prozent auf 22,9 Prozent.

Sinnvoller könnte auch ein Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP), das die Wirtschaftskraft Deutschlands abbildet, sein. Der Anteil der an die Rentenversicherung gezahlten Bundesmittel ist in den vergangenen 20 Jahren von 3,5 Prozent im Jahr 2003 auf 2,8 Prozent des BIP im Jahr 2022 gesunken.

Rente

Stabilisierung des Rentenniveaus: Der Gesetzentwurf von Sozialministerin Bas beinhaltet auch geplante Verbesserungen der Mütterrente.

06.08.2025 | 2:33 min

Sozialausgaben im Mittelfeld der reichen OECD-Staaten

Die Menge der Zahlen lässt sich wahrscheinlich schwer nach außen tragen. Das macht die Verkürzung auf "Rekordhoch" und "unbezahlbar" vielleicht umso verlockender. Die Vergleiche der vergangenen zehn bis 20 Jahre sprechen jedenfalls eine andere Sprache.

Dazu kommt, dass Deutschland - relativ zum Bruttoinlandsprodukt - für Soziales nicht mehr ausgibt als andere Industrieländer. Laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK beträgt der Anteil der staatlichen Sozialausgaben am BIP gut 27 Prozent, damit liegt Deutschland unter den 18 reichen OECD-Ländern im Mittelfeld.

Ökonom Marcel Fratzscher bei ZDFheute Live

Steuererhöhungen oder Kürzungen im Sozialsystem? Ökonom Marcel Fratzscher erklärt, wo wirklich Spielraum im Haushalt ist - und warum Besitzstände fallen müssen.

25.08.2025 | 12:31 min

Merz mit politischer Aussage

Tatsächlich hat die Regierung diverse Kommissionen zur Sozialstaats-, Bürgergeld- und Rentenreform einberufen - die demographischen Veränderungen sind unausweichlich. Alle Parteien werden in den kommenden Jahren darum ringen, wie es in der Sozialpolitik weiter gehen soll in Deutschland.

Wie viel Geld man bereit ist, in Rente, Bürgerversicherung, Pflege oder Krankenversicherungen zu stecken - oder ob man in diesen Bereichen Leistungen streichen sollte, das nennt man politischen Wettbewerb.

Dann sollte man aber auch die Ansicht, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar sei, eben als das einordnen, was sie ist: eine rein politische Aussage.

Mehr zum Thema