mit Video
Syrien nach Assad:Reise durch ein verwundetes Land
|
Zwei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes harrt das Land auf den Wiederaufbau - ohne den ein politischer Neuanfang unmöglich sein wird.
"Alle arabischen Staatschefs hatten die Tragödie in Syrien zu einer Lektion für ihre Bevölkerungen gemacht: sie sollten nicht demonstrieren, nicht ihre Rechte einfordern - sonst würden sie Krieg und Elend ernten. Nun aber ist der Niedergang des Regimes in Syrien eine Lektion für alle Regime geworden: dass sie genauso enden wie Assad, wenn sie nicht auf den Verstand ihrer Menschen hören". Mit einem Gleichnis fasst der syrische Revolutionär Ahmad Taha die Geschehnisse der vergangenen zwei Monate zusammen.
Nach jahrelanger Regierung unter Assad ist Ahmed al-Sharaa zum Übergangspräsident ernannt. Er kündigte an, mit einer Übergangsregierung Syrien beim Wiederaufbau zu helfen.
Quelle: AFP
Jahrelang als Flüchtlinge wahrgenommen
Über Jahre waren Syrer als Flüchtlinge wahrgenommen worden - rechtelos, würdelos, in der letzten Reihe der Hilfsempfänger. Als Schachfiguren ausländischer Mächte, als Verschiebemasse der Geopolitik - aus dem Gedächtnis ihres eigenen Landes fast gelöscht. Nun aber stehen sie im Mittelpunkt: Sie reden selbstbestimmt, und versuchen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen.
Hunderte Kilometer Fahrt - entlang von Geisterstädten
Die Zahlen der syrischen Tragödie machen sprachlos. Nach der Revolution von 2011 wurden mehr als eine halbe Million Syrer getötet - unter ihnen mehr als 200.000 Zivilisten - sei es durch konventionelle Waffen, Chemiewaffen, Fassbomben, Folter oder Hunger. Mehr als 100.000 werden vermisst, berichten Menschenrechtsorganisationen. Mehr als Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben. Mehr als zwei Millionen Vertriebene leben in Zeltlagern. Die Zerstörung ist so gewaltig, dass man hunderte Kilometer an Geisterstädten vorbeifährt.
Kälte, Hunger, nur selten Strom
Täglich sterben Menschen durch Landminen und nicht-explodierte Sprengsätze. Strom gibt es nur wenige Stunden. Die Gebäude sind eiskalt. Minderwertiger Treibstoff und der Diesel-Ruß der Stromgeneratoren machen die Luft schwarz. Bettelnde Kinder gehören zum Alltagsbild: Nach Angaben der UN sind 14,5 Millionen Syrer von Ernährungsunsicherheit betroffen, unter ihnen 5,4 Millionen vom Hunger bedroht.
"Müssen wirtschaftlich auf die Beine kommen"
"Wenn die Wirtschaft am Boden bleibt und die internationalen Sanktionen (die gegen das Assad-Regime verhängt wurden) nicht aufgehoben werden, dann stecken wir fest. Die Menschen müssen erst einmal wirtschaftlich auf die Beine kommen, bevor sie über Politik und Zivilgesellschaft nachdenken können", erklärt Zeina Schahla, eine Journalistin in Damaskus. Im Café Al-Rawda, in dem Syrer Backgammon spielen und Shisha rauchen, trifft sie Freunde wieder, die nach zwölf, dreizehn Jahren aus dem Exil zurückgekehrt sind - und nun das politische Bewusstsein im Land aufbauen wollen. "Das wird Jahre brauchen, bis dieses Vakuum gefüllt wird. Aber wir sehen, dass es nun Raum gibt - um über eine Verfassung, über neue Parteien zu sprechen.
Hoffentlich bleibt dieser Raum erhalten. Denn: Zur Geschichte der jetzigen Regierung gehören auch Repression und Menschenrechtsverletzungen.
Zeina Schahla, syrische Journalistin
Rebellenchef verspricht eine Regierung mit der "Vielfalt Syriens"
Rebellenchef Ahmad Al-Scharaa verspricht eine Übergangsregierung, die die Vielfalt Syriens, seiner Männer, Frauen und Jugend widerspiegeln werde. In seiner lange erwarteten ersten Rede sprach er von "freien und fairen Wahlen", einer Übergangsjustiz und einer "nationalen Konferenz", ohne Termine dafür zu nennen. Doch den Kern seiner Regierung bilden bislang nur die bekannten Gesichter der islamistischen Regierung seiner Rebellenenklave in Idlib.
Zersplittert in verschiedene Machtbereiche
Das Land bleibt zersplittert in verschiedene Machtbereiche. Die Kurdenmiliz Syrisch-Demokratische Kräfte SDF - bislang Partner der US-Streitkräfte im Kampf gegen den IS - kontrolliert nahezu ein Drittel des Landes: eine mehrheitlich arabische Region, darunter erdölreiche Gebiete und fruchtbares Ackerland. Al-Scharaa pocht auf die Auflösung der SDF in einer nationalen Armee. Viele Araber kritisieren die repressiven Praktiken der Kurdenmiliz und ihre Nähe zur PKK.
Konflikte erschweren den Neuanfang
Die Verhandlungen zwischen dem SDF-Oberkommandanten Mazlum Abdi und Damaskus stocken, denn die SDF möchte als separater Block einen Sonderstatus in einer Nationalarmee - und akzeptiert nicht, dass Al-Scharaa sich zum Übergangspräsidenten ernannt hat. Die Türkei wiederum wirft der SDF-Spitze die Nähe zur kurdischen Arbeiterpartei PKK vor, die auch in Europa als terroristisch eingestuft wird, und greift aus der Luft und mit pro-türkischen Söldnern die SDF und Zivilisten an.
Hoffen und Bangen um Syriens Einheit
Wird die Kurdenmiliz sich von der PKK abspalten - oder eine Konfrontation mit Damaskus riskieren? Im Nordosten wird sich entscheiden, ob Syrien eins werden kann - oder ob ein neuer Krieg droht.
Golineh Atai ist Studioleiterin des ZDF-Auslandsstudios Kairo. Sie berichtet unter anderem aus Syrien.
Quelle: dpa
Sie wollen auf dem Laufenden bleiben? Dann sind Sie beim ZDFheute-WhatsApp-Channel richtig. Hier erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten auf Ihr Smartphone. Nehmen Sie teil an Umfragen oder lassen Sie sich durch unseren Podcast "Kurze Auszeit" inspirieren. Zur Anmeldung: ZDFheute-WhatsApp-Channel.
Aktuelle Nachrichten zu Syrien
2:05 min
Nachrichten | heute 19:00 Uhr:Familiennachzug für Schutzbedürftige gestoppt
1:38 min
Nachrichten | heute 19:00 Uhr:Familiennachzug für Schutzbedürftige ausgesetzt
mit Video
Koalition will Nachzug aussetzen:Geflüchtete bangen um ihre Familien
von Lisa Jandi
mit Video
Hoffnung auf Aufschwung:USA lockern Sanktionen gegen Syrien
Treffen der Außenminister:Syrien: EU hebt Wirtschaftssanktionen auf
2:01 min
Nachrichten | heute - in Deutschland:Stopp für Familiennachzug
von Lisa Jandi
mit Video
Erinnerungen an 8. Dezember 2024:Syrien nach Assad: Angst, Hoffnung, Neustart?
1:42 min
Nachrichten | heute - in Deutschland:Dobrindts Pläne als Innenminister
von Lars Bohnsack
1:42 min
Nachrichten | heute 19:00 Uhr:Trump trifft syrischen Präsidenten
0:21 min
Bei seinem Besuch in Saudi Arabien:Trump trifft Syriens Übergangs-Staatschef
mit Video
Erstes Spitzentreffen seit 2000:Trump trifft Syriens Übergangspräsidenten
0:17 min
Jubelfeiern in Damaskus:Trump kündigt Ende der Syrien-Sanktionen an
0:28 min
Großes Rüstungsgeschäft:USA und Saudi-Arabien schließen Partnerschaft
1:30 min
Nachrichten | heute journal update:Aufhebung von Sanktionen "kein Blankoscheck"
2:56 min
Trump trifft Al-Scharaa:Was Syrien das Ende der Sanktionen bringt
Mehr zu Syrien
Nachrichten | Thema:Syrien
mit Video
Migrationsexperte zu Assad-Sturz:Flüchtlingssituation: Chance auf Entspannung?
mit Video
Nach Umsturz in Syrien:Assad und Familie offenbar in Moskau
mit Video
ZDF-Korrespondent zu Assad-Sturz:"Für Russland ist das Ganze eine Blamage"
Reaktion auf Assad-Sturz:Golanhöhen: Israel schickt Truppen in Pufferzone
mit Video
Nach Absetzung Assads:Syrer in Deutschland freuen sich über Umsturz
mit Video
Anführer der Rebellenmiliz:Al-Dschulani: Der neue starke Mann in Syrien?
FAQ
Bürgerkrieg in Syrien:Wie geht es nach dem Sturz Assads weiter?
Interview