Ex-SPD-Chef Gabriel zum "Manifest": "Das sind Wiederholungstäter"
Interview
Ex-SPD-Chef zum "Manifest":Sigmar Gabriel: "Das sind Wiederholungstäter"
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Sigmar Gabriel wirft den Autoren des "Friedenspapiers" historische Unkenntnis und Illoyalität gegenüber Lars Klingbeil vor - und warnt ihn vor einem weiteren Abrutschen der SPD.
Das "Manifest" zahlreicher prominenter SPD-Politiker, das eine Kehrtwende in der Außenpolitik und eine Annäherung an Russland fordert, richtet sich auch gegen Parteichef Lars Klingbeil.15.06.2025 | 4:06 min
ZDFheute: Was war Ihr erster Gedanke, als sie das "Manifest" lasen?
Sigmar Gabriel: Dass es eine ziemlich illoyale Aktion ist gegen den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil, der gerade eine Koalition begonnen hat und der ja die Politik von Olaf Scholz fortsetzt, mit Blick auf die Ukraine und mehr Verteidigungsausgaben. Und jetzt auf einmal sind Leute dabei, die vorher alles mitgemacht haben und jetzt von ihm das Gegenteil verlangen.
ZDFheute: Sie meinen Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich?
Gabriel: Herrn Mützenich, Herrn Stegner, die waren alle im Bundestag in leitenden Funktionen. Solange Olaf Scholz Kanzler war, haben sie sich entweder nicht getraut oder haben alles mitgemacht. Und jetzt wird das Gegenteil gefordert. Da hab ich erst mal gedacht, das ist ziemlich unfair.
Aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Das sind Wiederholungstäter.
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Sigmar Gabriel, Ex-SPD-Chef
Prominente SPD-Mitglieder fordern in einem "Manifest" eine Kehrtwende in der Außenpolitik sowie Gespräche mit Russland – und stellen sich damit gegen den Kurs von Bundesregierung und Parteispitze.11.06.2025 | 1:54 min
ZDFheute: Wie bewerten Sie das Papier inhaltlich?
Gabriel: Das Erste, was die Autoren offensichtlich völlig verpasst haben, ist, dass es permanente Versuche gibt, mit Russland in Friedensverhandlungen zu kommen. Und dass Russland nach jeder Initiative aus Europa oder des US-Präsidenten am nächsten Tag die Ukraine noch schärfer angreift und Zivilisten tötet.
Das Zweite: dass es einen ziemlich nostalgisch-verklärten Blick auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt gibt, möglicherweise durch historische Unkenntnis.
ZDFheute: Inwiefern?
Gabriel: Die Sowjetunion war eine Status-Quo-Macht. Heute haben wir es mit Russland, einer revisionistischen Macht zu tun, die mit militärischer Gewalt Grenzen ändern will.
Brandts Politik hierauf zu übertragen ist historisch einfach Unsinn.
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Sigmar Gabriel, Ex-SPD-Chef
Der Verteidigungshaushalt war damals bei Willy Brandt sogar doppelt so hoch wie heute: vier Prozent. Militärische Stärke und Verhandlungsbereitschaft waren für Brandt zwei Seiten der gleichen Medaille. Seine Entspannungspolitik war eben gerade kein Appeasement gegenüber Moskau! Hätte er so geredet wie die heutigen Autoren, hätte Moskau ihn überhaupt nicht ernst genommen. Insofern ist das ein ziemlicher Missbrauch und eine Verdrehung auch der sozialdemokratischen Geschichte.
Russland habe im Mai so viele Gebiete erobert, wie in keinem einzigen Monat zuvor seit 2022, sagt Oberst Reisner. Die russische Sommeroffensive in der Ukraine sei im vollen Gange. 12.06.2025 | 21:45 min
ZDFheute: Welche Konsequenzen erwarten Sie aus dem Papier?
Gabriel: Ich hoffe nicht, dass das Papier mehrheitsfähig ist. Der Fehler, den nicht nur die SPD, sondern bis auf die Grünen alle in Deutschland gemacht haben, war, Putin lange unterschätzt zu haben - und unseren Einfluss auf den Kreml überschätzt zu haben. Das macht dieses Papier nun erneut.
... war unter anderem Bundesumweltminister (2005-2009), Bundeswirtschaftsminister (2013-2017) sowie Bundesaußenminister (2017-2018). Als Wirtschaftsminister war er auch mit dem Bau der Ostseepipeline Nordstream 2 befasst.
Gabriel wurde 2019 zum Vorsitzenden des Atlantik-Brücke e.V. gewählt. Außerdem ist Gabriel im Aufsichtsrat mehrerer Unternehmen.
Russland geht es längst darum, wieder Großmacht zu werden. Das zu übersehen und auch, wie Russland sogar den US-Präsidenten an der Nase durch den Ring zieht, ist schon eine Realitätsferne, die ich selten erlebt habe.
ZDFheute: Auch Sie waren damals, als Putin "unterschätzt" wurde, als SPD-Chef und Wirtschaftsminister in Verantwortung. Wann kam bei Ihnen das Umdenken?
Gabriel: Natürlich bei dem großen Angriff Russlands auf die Ukraine. Meine persönliche Distanzierung von Putin, den ich ja oft getroffen habe, hatte aber auch schon etwas mit dem Syrien-Krieg zu tun. Als er mit Bashir al-Assad gemeinsame Sache gemacht hat, Krankenhäuser bombardieren ließ und Zivilisten umgebracht hat.
Die Position des "Manifests" mehrerer SPD-Politiker sei in der Partei "nicht mehrheitsfähig", so die Leiterin des ZDF-Hauptstadtstudios, Diana Zimmermann. 11.06.2025 | 2:46 min
ZDFheute: Das "Manifest" hat viele Unterzeichner. Die Sichtweise ist keine Einzelmeinung in der Partei. Gab es zu wenig Debatte?
Gabriel: Es gab vor allem das Wegducken der politischen Führung. Es gab in der SPD in den letzten Jahren nicht selten Vorschläge jenseits aller Realität, die nicht klargestellt worden sind. Die Parteiführung hat nie eine klare Linie verfolgt, sondern versucht alles kommunikativ wegzudrücken.
Ich bin absolut sicher, dass dies auch diesmal passiert. Dieses sogenannte "Manifest" wird bis zum Parteitag mit allen möglichen Formelkompromissen glattgebügelt, sodass alle sich dahinter verstecken können.
ZDFheute: Der Parteitag ist in zwei Wochen. Was erwarten Sie?
Gabriel: Wohltuend wäre, wenn die Parteiführung endlich mal sagen würde: 'Nein! So geht es nicht!' Und dann klar für die Politik einsteht, die man gerade erst im Koalitionsvertrag vereinbart hat und der eine Mehrheit der SPD-Basis zugestimmt hat. Gerade weil wir hier über einen Konflikt reden, den es auch in der Gesellschaft gibt, nicht nur in der SPD, muss die Politik der SPD klar und eindeutig sein.
Die Sehnsucht nach Frieden ist doch verständlich. Aber wer verschweigt, wer diesen Frieden verhindert, macht den Menschen etwas vor. Das ist das Schlimmste, was man als Regierungspartei machen kann. Das führt eher zu weniger als 16 Prozent als zu mehr.
Die historische Wahlniederlage der SPD war der Beginn seines Aufstiegs, vom Parteichef zum Vizekanzler. Klingbeil ist der neue starke Mann der SPD. Sein Vorgehen ist umstritten.11.05.2025 | 3:32 min
Das Interview führte ZDF-Hauptstadtkorrespondent Daniel Pontzen.