Dobrindts "Migrationswende" - gibt es sie wirklich?

Faktencheck

Gründe für rückläufige Asylzahlen:Dobrindts "Migrationswende" - gibt es sie wirklich?

Oliver Klein

von Oliver Klein

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Innenminister Dobrindt feiert sinkende Asylzahlen als Erfolg seiner restriktiven Politik. Doch Migrationsexperten sind skeptisch - sie sehen andere, komplexere Ursachen.

Flüchtlinge gehen in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen zu einer Unterkunft. (Archiv)

Flüchtlinge in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen - warum sinkt die Zahl der Asylanträge? (Archiv)

Quelle: dpa

Seit Monaten flüchten immer weniger Menschen nach Deutschland und bitten um Asyl. Und ebenfalls seit Monaten wertet Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) das als den Erfolg seiner restriktiven Politik: "Die Migrationswende zeigt Wirkung", sagte er bereits im Frühsommer, als die Zahl der Asylanträge in Deutschland auf ein Vierjahrestief gesunken war.

Wann immer neue, geringere Asylzahlen bekannt werden - zuletzt Anfang November - wiederholt Dobrindt seinen Befund. Die Anreize für illegale Migration seien erheblich reduziert worden, sagte er erst am Wochenende der "Bild am Sonntag". Auf der Webseite der CSU-Landesgruppe heißt es unter der Überschrift "Die Migrationswende wirkt": "Deutschland ist damit vom Bremser zur treibenden Kraft für die Migrationswende in Europa geworden."

Abschiebe-Flieger

Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge ist das erste Mal seit 2011 gesunken. In Deutschland leben rund 50.000 weniger Geflüchtete, als Ende letzten Jahres.

19.09.2025 | 0:24 min

Migrationsexperte: Dobrindts Aussage "unseriös"

Doch was ist dran an Dobrindts Worten? Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Migrationspolitik der Bundesregierung und weniger Anträgen auf Asyl? Welche anderen Gründe spielen eine Rolle? ZDFheute hat sich die Zahlen genauer angeschaut und Migrationsexpertinnen und -experten dazu befragt.

Marcus Engler vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung glaubt, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zusammengenommen - beispielsweise Kontrollen an den Grenzen, mehr Abschiebungen oder Verschärfungen des Asylrechts - wahrscheinlich durchaus einen Effekt haben. Dieser sei aber vermutlich "nicht sehr stark".

Es gibt keine seriösen aktuellen Studien, die einen solchen Zusammenhang kausal nachweisen können - demzufolge einzelne innenpolitische Restriktionen in signifikanter Weise dazu beitragen, dass die Zahlen runtergehen.

Marcus Engler, Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung

Asylanträge pro Jahr

ZDFheute Infografik

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Die Zusammenhänge seien komplex, die Datenlage lückenhaft - darum sei ein solcher Zusammenhang schwer nachzuweisen. "Insofern sind solche pauschalen Aussagen einfach unseriös", sagt Engler.

Forscherin: Stimmung in Deutschland "feindseliger"

Auch Birgit Glorius, Migrationsforscherin an der Technischen Universität Chemnitz und stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats Integration und Migration, steht der Aussage Dobrindts skeptisch gegenüber. Die Expertin glaubt aber dennoch an eine gewisse Wirkung der Maßnahmen der Bundesregierung:

Das ist Symbolpolitik - aber auch Symbolpolitik wirkt. Und zwar als Signal nach außen.

Birgit Glorius, Vorsitzende des Sachverständigenrats Integration und Migration

Ein Mann füllt ein Formular aus neben einem Schild vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen

In der EU gab es im ersten Halbjahr deutlich weniger Asylanträge im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland wurden rund 70.000 Anträge gestellt - ein Minus von 43 Prozent.

08.09.2025 | 0:25 min

"Wenn wir mit geflüchteten Menschen sprechen, hören wir, dass sich die Stimmung in Deutschland ihnen gegenüber geändert hat", erklärt Glorius. Es sei "feindseliger" geworden. "Das ist sehr subjektiv, aber das spricht sich herum, die Botschaft erreicht auch die Menschen im Ausland - die dann vielleicht nicht mehr nach Deutschland wollen."

Zahl der Zurückweisungen seit Jahren kaum verändert

Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) weist im Gespräch mit ZDFheute darauf hin, dass die zusätzlichen Maßnahmen der Bundespolizei an den deutschen Grenzen mit Blick auf Zurückweisungen überhaupt keinen zusätzlichen Effekt erzielen konnten:

"Im Schnitt waren das in den vergangenen Monaten zwischen 3.000 und 3.500 Zurückweisungen. Das ist genau der Durchschnitt der letzten drei Jahre", so Rietig. Bei den Zurückweisungen an der Grenze habe es also keine Wende gegeben, erklärt die Migrationsforscherin - trotz Tausender Bundespolizisten im Einsatz.

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Zahlen sinken europaweit

Die Zahlen der Asylanträge sinken nicht nur in Deutschland, sondern europaweit: Im ersten Halbjahr 2025 wurden in der EU, Norwegen und der Schweiz im Vergleich zum Vorjahr 23 Prozent weniger Asylanträge gestellt, wie Daten der EU-Asylagentur zeigen.

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Migrationsexperten weisen auf eine Reihe anderer, plausibler Erklärungen hin, die dazu führen, dass nun weniger Menschen Asyl in Deutschland beantragen.

  • Veränderte Lage in Syrien: Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat sich die Lage in dem Land entspannt - deutlich weniger Menschen aus Syrien flüchten.
  • Drittstaaten-Deals: Die EU vertieft die Kooperation mit wichtigen Transit- und Herkunftsländern kontinuierlich, zuletzt unter anderem mit Ägypten, Tunesien und Libyen. Darin bietet die EU finanzielle Mittel, technische Unterstützung, aber auch Investitionen oder Visaerleichterung im Austausch für das Aufhalten, Zurückweisen oder Zurücknehmen von Geflüchteten an.
  • Maßnahmen von Balkan-Staaten: Einige Balkanstaaten verstärkten zuletzt ihre Kooperation mit der EU-Grenzagentur Frontex, um irreguläre Migration über die sogenannte Balkan-Route einzudämmen.

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  • Verschärfter Grenzschutz: Nicht nur entlang der Balkanroute wurden Grenzkontrollen verschärft. Polen und die baltischen Staaten errichteten an ihrer Grenze zu Russland und Belarus Grenzzäune und andere Schutzanlagen, Griechenland baut an der Grenze zur Türkei eine Mauer, die Türkei baut ihrerseits an ihren Grenzen Hunderte Kilometer lange Mauern und Zäune, insbesondere zu Syrien und dem Iran.
  • Wirtschaftliche Situation Deutschlands: "Lange wurde Deutschland als ein politisch und wirtschaftlich sehr stabiles Land wahrgenommen", erklärt Engler. Dieses Bild habe sich geändert - und es sei möglich, dass Deutschland für Schutzsuchende inzwischen weniger attraktiv erscheine, weil sie hierzulande beispielsweise weniger leicht an Arbeit kommen oder die Lage auf dem Wohnungsmarkt zunehmend angespannt ist.
  • Nachholeffekte: Auf Phasen mit hohen Migrationsbewegungen folgen oft Phasen mit weniger flüchtenden Menschen. Während der Coronapandemie wurde die Mobilität weltweit stark ausgebremst, die Zahlen der Erstanträge auf Asyl sanken deutlich. Danach stiegen sie wieder stark an - ein Nachholeffekt in den Jahren 2022 und 2023. Dieser flacht nun wieder ab.

Fazit: Es gibt zwar eine Wende bei der Migration - aber ein direkter, kausaler Zusammenhang zu Dobrindts restriktiver Migrationspolitik lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Die Maßnahmen der Bundesregierung haben vermutlich einen Einfluss, wie hoch dieser aber ist, lässt sich nicht beziffern. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Faktoren, die zu sinkenden Asylzahlen beitragen können.

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