35 Jahre gesamtdeutscher Bundestag:Thierse: Wiedervereinigung ist "noch nicht ganz zu Ende"
Vor 35 Jahren trat in Berlin der erste gesamtdeutsche Bundestag zusammen. Der spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erlebte diesen Tag als frisch gewählter SPD-Abgeordneter.
Sehen Sie hier das gesamte Interview mit Wolfgang Thierse (SPD).
18.12.2025 | 10:09 minDer ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse saß in seinem Leben in zwei Parlamenten. Beide Male waren es Premieren. Die erste frei gewählte Volkskammer der DDR und der erste gesamtdeutsche Bundestag, der vor knapp 35 Jahren zusammenkam. Im Interview mit ZDFheute erinnert er sich.
ZDFheute: Herr Thierse, vor 35 Jahren konstituierte sich der erste gesamtdeutsche Bundestag, Sie waren mit dabei. Was war das für Sie für ein Gefühl, haben Sie noch eine Erinnerung daran?
Thierse: Natürlich habe ich eine Erinnerung daran. Ich bin ja damals mit einem Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Zur gleichen Zeit hat die SPD ein ziemlich schlechtes Ergebnis erzielt. Also hatte ich persönlich ein zwiespältiges Gefühl: erfolgreiche Wahl für mich persönlich und schlechtes Wahlergebnis für meine Partei.
Die Eröffnungsrede hielt der damalige Alterspräsident, der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD).
18.12.2025 | 42:11 minAber ich erinnere mich genau auch an die Rede von Willy Brandt - der war Alterspräsident -, die mich sehr bewegt hat. Er hat die Ostdeutschen so ausdrücklich begrüßt. Mit einem Pathos und einer Emotion, wie nur er das konnte - glaubwürdig konnte. Und es war ja der Einstieg in die parlamentarische Normalität.
ZDFheute: Sie waren sehr engagiert schon zu Ostzeiten, auch ein Mann der Kirche, immer wieder auch die Stimme Ostdeutschlands. Hatten Sie das Gefühl, jetzt sind wir angekommen - jetzt in dieser Wiedervereinigung?
Thierse: Das Gefühl war schon: Wir sind jetzt da, und jetzt beginnt die ernsthafte Arbeit. Denn, das hatte ich in meiner ersten Rede im Bundestag schon gesagt: Machen wir uns keine Illusionen. Das Ereignis der Wiedervereinigung ist wunderschön, aber wir haben jetzt schwierigste Aufgaben zu lösen. Und es wird keine Wunder geben, sondern es wird mit Opfern und mit Enttäuschung verbunden sein.
Vor 35 Jahren hat sich Historisches ereignet: Das erste gesamtdeutsche Parlament trat in Berlin zusammen. Einer der damals schon dabei war: SPD-Politiker Wolfgang Thierse.
18.12.2025 | 2:44 minZDFheute: Warum war Ihnen klar, dass das jetzt erst der Anfang ist und warum jetzt auch schwierige Zeiten kommen?
Thierse: Wir konnten doch wissen, dass die DDR-Wirtschaft in einem ziemlich schwierigen Zustand war. Vieles war schon zusammengebrochen. Ein nüchterner Blick konnte einem das sagen und es ist ja auch so eingetreten.
Wir haben damals einen Prozess begonnen, der noch heute nicht ganz zu Ende ist.
Wir sind immer noch unterwegs auf dem Weg der Vereinigung. Ich sage das ohne Anklage. Es ist kein Wunder, dass nach 40 Jahren getrennter, gegensätzlicher Entwicklung so vieles zu bewältigen ist und dass wir damit immer noch zu tun haben und erst recht angesichts einer so radikal veränderten Welt.
Wenn ich mich erinnere: Damals hofften wir auf eine Welt des Friedens, der Überwindung von Grenzen und jetzt sehen wir, Grenzen sind wieder da, Kriege sind wieder da. Die Welt ist nicht schöner, nicht idyllischer geworden.
35 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Ostdeutsche in Spitzenpositionen nach wie vor rar. In Top-Unternehmen und beim Militär fehlen sie fast komplett.
19.09.2025 | 1:37 minZDFheute: Sie haben gesagt, im Grunde genommen ist das Zusammenwachsen noch nicht abgeschlossen. Warum ist das so?
Thierse: Ich glaube, die Änderung der politischen Verhältnisse, die Einführung des Rechtsstaates, die Einführung von Marktwirtschaft, das kann man in einer bestimmten Zeit organisieren.
Was in den Herzen und Köpfen von Menschen steckt, Mentalitäten, Einstellungen, Erinnerungen, das ändert sich viel langsamer.
Wenn sich dann auch noch die Erfahrung dazugesellt, dass man in diesen dramatischen Veränderungen unter die Räder gekommen ist oder in Angst gelebt hat, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit erlebt hat, die Entwertung von eigener Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen, dann führt das dazu, dass Menschen bereit sind, den Populisten zu glauben, den Verführern zu glauben, dass sie bereit sind, sich Ressentiments hinzugeben. Das ist das Gefährliche der Situation.
In Zeiten dramatischer Veränderungen sind Menschen empfänglicher für die gefährlichen Botschaften der Populisten und der Extremisten.
ZDFheute: Wolfgang Thierse als die Stimme der Ostdeutschen. Braucht es die in unserer heutigen Zeit noch?
Thierse: Parlamentarier sollten immer Fürsprecher ihrer Bürger sein. Sie sind ja Repräsentanten, sie sind gewählt in Stellvertretung. Und das gilt natürlich auch und erst recht für die Ostdeutschen, weil die Ostdeutschen sich immer noch zu einem guten Teil als die Schwächeren empfinden.
Also müssen ostdeutsche Repräsentanten auch entschiedener, energischer, leidenschaftlicher sein, damit die Ostdeutschen sich wahrgenommen und vertreten fühlen.
Das Interview führte Andreas Huppert, Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio.
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