Westdeutscher Diplomat in Ungarn:Wie Axel Hartmann zum Fluchthelfer für DDR-Bürger wurde
In den 1980er-Jahren half der westdeutsche Diplomat Axel Hartmann unkonventionell 1.000 DDR-Bürgern bei der Flucht über Ungarn: "Menschen, die für ihre Freiheit viel riskierten."
Von Ungarn über Österreich in die Bundesrepublik: Kontrolle von DDR-Flüchtlingen am Zollamt Suben. (Symbolbild)
Quelle: Sven SimonZDFheute: Als Leiter der Konsularabteilung der bundesdeutschen Botschaft in Budapest haben Sie in den 1980er-Jahren rund 1.000 DDR-Bürgern zur Ausreise und Flucht verholfen - und dabei oft Ihre diplomatischen Kompetenzen überschritten. Was hat Sie dazu bewegt?
Axel Hartmann: Ein unterschwelliges, sehr persönliches Motiv war sicherlich die Teilung, die ich in meiner Familie erlebt habe: Die eine Hälfte der Familie war im thüringischen Nordhausen in der DDR. Die andere Hälfte war im niedersächsischen Bad Sachsa in der Bundesrepublik. Die beiden Städte sind eigentlich nur eine halbe Stunde Fahrzeit voneinander entfernt, waren aber jahrzehntelang getrennt durch eine schier unüberwindbare Grenze.
Diese Trennung hat geschmerzt - und das haben viele Familien in Ost und West erlebt. Heute kann ich es ja ruhig sagen: Irgendwie habe ich es dem DDR-Regime heimzahlen wollen.
… ist deutscher Diplomat a. D. und ehemaliger Botschafter in der Slowakei. Nach dem Jurastudium und Tätigkeiten in der CDU-Bundesgeschäftsstelle trat der Niedersachse 1980 in den Auswärtigen Dienst ein. Als Konsul in Budapest (1982–1985) half er rund 1.000 DDR-Bürgern bei der Flucht - oft mit unkonventionellen Mitteln. Später erlebte er im Bonner Bundeskanzleramt die Wende in Osteuropa und wirkte bei der Deutschen Einheit mit. Von 1994 bis 2006 war er Amtschef der Thüringer Landesvertretung, danach Generalkonsul in Mailand und Botschafter in Bratislava. Der inzwischen 77-Jährige lebt in der slowakischen Hauptstadt, wo ihn ZDFheute telefonisch erreicht hat.
ZDFheute: Wie genau haben Sie den Menschen geholfen, die in die Bundesrepublik wollten?
Hartmann: Schon lange vor 1989 kamen DDR-Bürger in großer Zahl zu uns - verzweifelt und entschlossen. Das waren Menschen, die für ihre Freiheit viel riskierten. Unsere Botschaft war frei betretbar. Ich habe die Leute beraten und auch immer wieder in der Botschaft untergebracht. Ich stellte ihnen westdeutsche Pässe aus, wohl wissend, dass das kein Freifahrtschein war.
Aber ich habe auf einige ungarischen Anwälte vertraut, die diskret mit ungarischen Grenzoffizieren kooperierten. Wenn jemand doch an der ungarisch-österreichischen Grenze verhaftet wurde, meldete ich die Personalien an das Auswärtige Amt - damit der Freikauf eingeleitet werden konnte.
ZDFheute: Mit welchen Vorstellungen kamen die Menschen zu Ihnen?
Hartmann: Viele wollten, dass ich sie direkt rausschaffe - in den Kofferraum packen und über die Grenze fahren. Das ging natürlich nicht. Das wäre ein Verstoß gegen die diplomatischen Regeln gewesen und hätte meine Ausweisung als Diplomat in Budapest bedeutet. Aber es gab für mich andere Möglichkeiten, ihnen Tipps zu geben, wie sie über die Grenze kommen.
Was war die Stasi? Welche Bedeutung hatte die SED? Geschichtslehrer fordern, dass die DDR stärker im Unterricht behandelt wird, um immer größere Wissenslücken zu schließen.
16.01.2025 | 2:45 minZDFheute: Haben Sie sich damit nicht auch Ärger eingehandelt?
Hartmann: Und ob! (lacht) Einmal bin ich vom Botschafter auch richtig hart zurückgepfiffen worden. Zuvor hatten sich DDR-Offizielle im Bundeskanzleramt über mich beschwert. Der Botschafter schimpfte, ich solle mich künftig strikt an die Weisungen halten, also keine Grenzüberschreitung bei der Hilfeleistung. Ich habe ihm geantwortet: "Herr Botschafter, das sind Deutsche wie Sie und ich, wir unterscheiden ja nicht nach der Staatsangehörigkeit. Nach Paragraph 5 des Konsulargesetzes bin ich verpflichtet, Deutschen, die im Ausland in Not geraten, Hilfe und Beistand zu gewährleisten."
ZDFheute: Sie haben nicht zwischen BRD- und DDR-Bürgern unterschieden?
Hartmann: Nein, ich habe mich auf die "Einheitlichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit" berufen, wie sie auch vom Bundesverfassungsgericht im Kontext des Grundlagenvertrags 1973 bestätigt wurde. Für mich war klar: Ob DDR oder BRD - es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit, und damit auch einen gemeinsamen Anspruch auf Schutz und Hilfe.
ZDFheute: Wie ging das Gespräch mit dem Botschafter aus?
Hartmann: Er hat irgendwann mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt: "Ich weiß, was Sie tun, aber ich will es nicht wissen." Ihm waren die diplomatischen Spannungen und der moralische Konflikt bewusst. Er wollte seine Weisungen aus dem Auswärtigen Amt nicht infrage stellen, hat aber praktisch resigniert, weil er wusste, ich mache das weiter.
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01.07.2025 | 1:31 minZDFheute: Die DDR-Staatssicherheit nahm Sie ins Visier. Hatten Sie nie Zweifel - oder Angst?
Hartmann: Ich wusste, dass wir durch die Stasi abgehört und beobachtet werden, auch im privaten. Das war schon sehr krass. Ich habe damals aber noch gar nicht gewusst, was die DDR alles über mich wusste. Ich habe das mit großer Überraschung erst später in der Stasi-Akte nachgelesen. Ich dachte immer, ich mache das so clever, die merken das gar nicht. Aber Pustekuchen, die wussten genau Bescheid. Sie wollten auch, dass die Ungarn mich zur Persona non grata erklären und ausweisen.
Axel Hartmann geriet auch ins Visier der Stasi, sein Fazit: "Die wussten genau Bescheid."
Quelle: Axel HartmannZDFheute: Deutschland feiert in diesem Jahr 35 Jahre der Wiedervereinigung. Was bedeutet Ihnen dieses Jubiläum persönlich?
35 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich vieles verschoben. Menschen haben den Osten verlassen. 80 Prozent der Deutschen leben heute im Westen der Republik.
02.09.2025 | 1:07 minHartmann: Die Wiedervereinigung hat mir immer sehr viel bedeutet. Heute bedaure ich aber, dass immer mehr in Vergessenheit gerät, wie die Situation vor 1989 war - dass einem großen Teil der Bevölkerung in Deutschland die Freiheitsrechte und Freizügigkeitsrechte verwehrt wurden und dass viele Menschen ihr Leben riskiert haben, um aus der DDR rauszukommen.
Außerdem sollten wir uns immer im Bewusstsein halten, dass wir damals mit Michail Gorbatschow an der Spitze der Sowjetunion ein Riesenglück hatten. Stellen Sie sich vor, da wäre damals ein Putin gewesen. Da würden wir heute noch auf die deutsche Einheit warten, die DDR wäre pleite und die Leute würden nach wie vor über Ungarn flüchten.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.
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