Grundsicherung: Ist komplette Streichung von Leistungen erlaubt?

Neue Grundsicherung:Ist die komplette Streichung von Leistungen erlaubt?

von Charlotte Greipl, Louisa Hadadi
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Totalverweigerern sollen Leistungen bald ganz gestrichen werden können. Doch Verfassungsrechtler haben Zweifel, ob das im Einklang mit dem Grundgesetz ist.

Ein Antrag, auf dem das Wort "Bürgergeld" durchgestrichen und "Grundsicherung" oben drüber geschrieben wurde. Darum herum Bargeld, ein Taschenrechner und das Logo der Agentur für Arbeit auf einem Schlüsselband.

Die Grundsicherung soll härtere Sanktionen für Leistungsempfänger*innen ermöglichen. Das könnte zum Konflikt mit dem Grundgesetz führen.

Quelle: action press

Die Reform des Bürgergeldes ist noch nicht einmal beschlossen, da sehen die ersten sie schon scheitern. Der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer etwa sagte im ZDF, er glaube nicht, dass die Möglichkeit, die Grundsicherung bei sogenannten Totalverweigerern vollständig zu streichen, grundgesetzkonform sei:

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das verfassungsgemäß ist, und ich glaube, Karlsruhe reibt sich da schon die Hände, um das zu zerreißen.

Philipp Türmer, Juso-Vorsitzender

Schaltgespräch Wehrmann mit Türmer

Schon Hartz IV habe gezeigt, dass Sanktionen nichts bringen, sagt Juso-Chef Philipp Türmer. Die neue Grundsicherung sei so auch nicht verfassungsgemäß. "Karlsruhe reibt sich da schon die Hände."

10.10.2025 | 3:58 min

Tatsächlich zieht das Bundesverfassungsgericht enge Grenzen, wenn es darum geht, Leistungsempfänger*innen, die ihre Mitwirkungspflichten verletzen, zu sanktionieren. Grund dafür ist das "menschenwürdige Existenzminimum".

Aus der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes leitete das Bundesverfassungsgericht 2010 das Recht auf Sicherung des "menschenwürdigen Existenzminimums" ab. Wenn Menschen keine Möglichkeit haben, sich selbst zu versorgen, muss grundsätzlich der Staat einspringen. 

Das menschenwürdige Existenzminimum sichert dabei nicht nur das reine Überleben, sondern deckt auch solche Kosten ab, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.


Grundsicherung: Was die neuen Regeln vorsehen

Wer künftig nicht mit der Agentur für Arbeit zusammenarbeitet, soll schneller und vor allem härtere Konsequenzen spüren.

Besonders rigide sind die im Koalitionsausschuss beschlossenen Regeln in Bezug auf sogenannte Meldeversäumnisse, wenn Betroffene also grundlos nicht zu Terminen erscheinen.

Künftig sollen Leistungen beim zweiten versäumten Termin um 30 Prozent gekürzt werden können. Wenn Leistungsempfänger*innen auch zum dritten Termin nicht erscheinen, dann werden die Leistungen komplett eingestellt. Erscheint die betroffene Person auch im Folgemonat nicht im Jobcenter, werden alle Zahlungen, inklusive der Miete, eingestellt.

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Verschärfte Sanktionen sollen künftig auch bei Verstößen gegen Mitwirkungspflichten gelten. Dazu zählen etwa das Schreiben von Bewerbungen oder die Teilnahme an Schulungen. Wer hier nicht mitmacht, dem darf das Jobcenter die Leistungen direkt um 30 Prozent kürzen.

Wer eine Arbeitsaufnahme ganz verweigert, dem werden Geldleistungen ganz gestrichen, allerdings, so heißt es in dem Einigungspapier, "im Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts". Doch was ist damit gemeint?

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Strenge Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts

2019 befasste sich Karlsruhe schon einmal damit, ob und inwiefern Kürzungen wegen verletzter Mitwirkungspflichten mit dem menschenwürdigen Existenzminimum vereinbar sind. Die Karlsruher Richter*innen stellten klar:

Die Menschenwürde kann selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 5.11.2019

Demnach sind nur solche Sanktionen erlaubt, bei denen nachgewiesen werden kann, dass sie die Menschen zur Mitwirkung bewegen können. Für Kürzungen in Höhe von 30 Prozent konnte die Bundesregierung damals ausreichend Daten vorlegen.

Doch je höher die Sanktion, desto geringer der Nutzen. Bei hohen Sanktionen legen Studien sogar nahe, dass Menschen eher ihre Wohnung verlieren, sich verschulden, sich zurückziehen und öfter krank werden. Deshalb kippte das Bundesverfassungsgericht Kürzungen in Höhe von 60 Prozent und mehr.

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Vollständiger Leistungsentzug nicht per se verfassungswidrig

Doch das Gericht ließ ein Schlupfloch: Wer eine Arbeit grundlos ablehnt, obwohl er sie annehmen könnte, dem dürften theoretisch alle Leistungen gestrichen werden, so Karlsruhe. Gemeint sind die sogenannten Totalverweigerer. Doch die Hürden, die das Bundesverfassungsgericht dafür im Einzelnen aufgestellt hat, sind enorm hoch.

Verfassungsrechtler*innen haben daher Zweifel, dass die angekündigten Regeln grundgesetzkonform wären.

Anne Lenze, Professorin für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Universität Frankfurt am Main, zeigt sich überrascht, "dass die Politik sich über die doch sehr eindeutigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts so leichtfertig hinwegsetzt, vor allem, weil es sich ja auch um ein eher junges Urteil handelt".

Auch Professor Friedhelm Hufen glaubt nicht, dass die geplante vollständige Leistungskürzung mit dem Grundgesetz vereinbar wäre: "Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass Kürzungen nicht das Existenzminimum unterschreiten dürfen, weil dieses zur Menschenwürde zählt - das ist der höchste Grundsatz der Verfassung."

In Deutschland beziehen etwa 5,3 Millionen Menschen Bürgergeld. Mehr als ein Viertel von ihnen (1,4 Millionen) sind nicht erwerbsfähig, die meisten davon Kinder.

Von den 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger*innen sind mehr als die Hälfte (2,2 Millionen) nicht arbeitslos. Sie beziehen beispielsweise Bürgergeld, weil ihr Arbeitslohn nicht reicht, weil sie in Ausbildung sind oder weil sie Angehörige pflegen.

Die meisten der 1,8 Millionen arbeitslosen Erwerbsfähigen sind nur schwer vermittelbar, weil sie keinen Berufsabschluss haben, älter als 55 Jahre sind und/oder eine schwere Behinderung haben. 23.352 arbeitslose Erwerbstätige erhielten letztes Jahr gekürzte Leistungen, weil sie sich weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme aufzunehmen. Schätzungen von Experten zufolge liegt die Gesamtzahl der totalen Leistungskürzungen zwischen April 2024 und Juni 2025 im niedrigen zweistelligen Bereich.


Gesetzgeber hat Spielräume

Doch Exper*innen weisen auch darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber Raum für eigene Entscheidungen gegeben hat und die bisher geltenden Höchstwerte für Sanktionen nicht in Stein gemeißelt sind. Die Spielräume des Gesetzgebers seien größer, als man manchmal annimmt, so Hufen, "auch bei Kürzungen der Leistungen ohne Eingriff in das Existenzminimum."

Doch wie viel wäre zu viel? Unmittelbar aus der Verfassung lässt sich das nicht ableiten, und so könnte es sein, dass am Ende wieder Karlsruhe entscheiden muss, ob die angekündigten neuen Regeln mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Leistungskürzungen ist mittlerweile schon sechs Jahre her und bis zur nächsten Entscheidung könnte es weitere fünf bis zehn Jahre dauern. Nicht ausgeschlossen also, dass die Schwarz-rote Koalition auch auf eine Änderung der Rechtsprechung spekuliert.

Charlotte Greipl und Louisa Hadadi arbeiten in der Redaktion "Recht und Justiz".

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