Angst vor Weltkrieg? Historiker Neitzel zur Debatte bei "Lanz"
Historiker Neitzel ordnet ein:Angst vor Weltkrieg: Eine deutsche Diskussion?
von Bernd Bachran
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Militärhistoriker Sönke Neitzel sieht eher eine Gefahr regionaler Konflikte mit Russland statt eines großen Kriegs. Pazifist Ole Nymoen ist besorgt vor einer möglichen Wehrpflicht.
Über die verheerenden humanitären Folgen gewaltsamer Konflikte, wie zwingend tiefgreifende und rasche Reformen bei der Bundeswehr sind sowie über die Gefahr eines Angriffs Russlands auf die NATO.23.07.2025 | 60:18 min
Seit über drei Jahren führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine - ein Krieg, der auch unser Sicherheitsgefühl in Deutschland und Europa grundlegend verändert hat.
Laut ZDF-Politbarometer aus dem März sorgten sich 72 Prozent der Befragten vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf andere Länder in Europa. Dem ARD-DeutschlandTrend vom Mai 2025 zufolge machten sich 64 Prozent der Befragten große oder sehr große Sorgen - viele fürchten sogar einen Dritten Weltkrieg oder einen Atomkrieg. Die Kriegsangst ist zurück in der Mitte der Gesellschaft.
Angst vor einem Weltkrieg: Eine "German Angst"?
"Das ist natürlich eine sehr deutsche Diskussion", sagt der Militärhistoriker Sönke Neitzel am Mittwochabend bei "Markus Lanz".
In Polen ist die Sorge vor einer Abkehr der USA von Europa sehr groß. Das osteuropäische Land an der Ostflanke der Nato hat deshalb zuletzt deutlich aufgerüstet.06.03.2025 | 1:50 min
"Die Diskussionen laufen in anderen Ländern ganz anders. Wenn ich in Frankreich bin, wenn ich in Großbritannien bin, erlebe ich das anders." Also typisch "German Angst"?
Ich habe in Frankreich nicht erlebt, dass man jetzt wirklich über die Gefahr eines Dritten Weltkrieges spricht.
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Sönke Neitzel, Militärhistoriker
Neitzel erklärt dies mit der historischen Erfahrung der Deutschen. "Wenn wir Deutschen über Krieg reden, dann denken wir an den Zweiten Weltkrieg, dann denken wir an den Holocaust".
Wir denken aber auch an die deutsch-deutsche Erfahrung des Kalten Krieges, eines möglichen Atomkrieges.
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Sönke Neitzel, Militärhistoriker
Ende der fünfziger Jahre beginnt der Kalte Krieg: der nukleare Machtkampf der Supermächte USA und UdSSR. Im damals geteilten Deutschland stehen sich die Militärblöcke Nato und Warschauer Pakt direkt gegenüber.02.08.2020 | 44:02 min
Sönke Neitzel berichtet von Gesprächen mit militärischen Experten der Nato, die sich nicht mehr auf ein klassisches Kalter-Krieg-Szenario konzentrieren, "dass Russland mit drei Panzerarmeen auf Warschau zu marschiert" - diese Experten gingen stattdessen von regionalen Konflikten aus.
"Schlimm genug, aber nicht das, was wir uns im Kalten Krieg vorgestellt haben", kommentierte Neitzel.
Schon kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist Europa in Sorge: Auch andere europäische Länder fühlen sich durch den Krieg bedroht. Ist Aufrüstung ein Ausweg?26.04.2022 | 43:41 min
Eigendorf: Menschen durch Krieg "psychisch zerstört"
Die ZDF-Reporterin und Sonderkorrespondentin Katrin Eigendorf berichtet seit Beginn des Krieges regelmäßig aus der Ukraine. Bei "Markus Lanz" beschreibt sie eindrücklich, was Krieg mit den Menschen macht, die nicht direkt getötet werden.
Eigendorf berichtet unter anderem von Menschen, die aus russischer Gefangenschaft zurück zu ihrer Familie kamen: Dort konnten diese ihren Frauen nicht einmal Hallo sagen, weil "sie so psychisch zerstört" waren.
Da wird wirklich das Menschsein vernichtet.
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Katrin Eigendorf, ZDF-Reporterin auch in der Ukraine
Für die verbliebenen Zivilisten, aber auch für die Soldaten in den umkämpften Gebieten ist der Krieg eine unglaubliche Belastung. ZDF-Reporterin Alica Jung berichtet. 11.10.2024 | 2:48 min
Nymoen: "Wäre lieber besetzt als tot"
Im März 2025 veröffentlichte der 27-jährige Ole Nymoen das Buch "Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde: Gegen die Kriegstüchtigkeit". In einem Interview zu diesem Buch sagte Nymoen, Mitglied der Partei Die Linke, der Financial Times:
Eine Besatzung durch eine fremde Macht könnte zu einem beschissenen Leben führen. Aber ich wäre lieber besetzt als tot.
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Ole Nymoen, Buchautor
In Bezug auf die Beschreibungen von Kriegsreporterin Eigendorf sagt Nymoen: "Soll ich für die Eventualität, dass ich in einem Folterkeller lande, bereit sein, mein Leben herzugeben? Da muss ich ganz ehrlich sagen, das ist für mich kein schlagendes Argument."
Von Markus Lanz darauf angesprochen, was er denn machen würde, wenn er in einem konkreten Bedrohungsszenario eine Einberufung bekommen würde, sprach Ole Nymoen davon, dass er versuchen würde, das Land noch vor Ausbruch der Kämpfe zu verlassen. Falls das nicht mehr möglich sei, würde er sich verstecken. Und wenn auch das nicht funktioniere, würde er versuchen, irgendwo im zivilen Bereich unterzukommen.
Die Bundesregierung plant ein neues Wehrdienstmodell, das schon bald auf freiwilliger Basis starten soll. Was denken junge Menschen über den Dienst an der Waffe?11.04.2025 | 2:39 min
Buchautor: "Der Staat macht die Bevölkerung kriegssüchtig"
Nymoen richtet den Blick jedoch auf einen ganz anderen Aspekt - weniger auf die persönliche Entscheidung im Fall einer Einberufung als auf eine grundsätzliche Frage dahinter. "Ja, ich würde nicht kämpfen wollen".
Aber mein Problem ist ein ganz anderes, nämlich das interessiert den Staat nicht, sondern der Staat macht dann die Bevölkerung kriegstüchtig, ob die will oder nicht.
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Ole Nymoen, Buchautor
Als Beleg für seine These nannte der 27-Jährige die aktuelle Diskussion zum Thema "Wehrpflicht". "Das ist das, was jetzt gerade in Deutschland vorbereitet wird. Das ist das, worauf die Wehrpflicht natürlich hinausläuft."
Seit 2024 gilt in der Ukraine ein neues Mobilisierungsgesetz. Männer zwischen 25 und 60 Jahren müssen sich registrieren lassen. Viele versuchen, vor dem Kriegsdienst zu flüchten.14.08.2024 | 6:26 min
ZDF-Korrespondentin: Bei realer Bedrohung fällt Entscheidung anders aus
Nymoen ergänzte: "Das ist ja auch der Grund, warum ich keine Lust habe, in einen Krieg zu gehen. Ich schieße da letztlich auf Leute, die nicht mit mir Krieg führen, weil sie ein Problem mit mir haben, sondern weil sie es befohlen bekommen haben. Und umgekehrt müsste ich auf sie schießen, weil ich es befohlen bekommen habe."
Katrin Eigendorf zeigt bei "Markus Lanz" einerseits Verständnis für die pazifistische Haltung von Ole Nymoen, verweist allerdings auch darauf, dass "bei uns das Bewusstsein dessen, wie ein Bedrohungsszenario wirklich aussieht, doch sehr abstrakt" sei. "Wenn die Bedrohung wirklich mal da ist, dann wird unser aller Entscheidung ganz anders ausfallen."