75-jähriges Bestehen:Verfassungsschutz: Wächter der Demokratie mit Schattenseiten
von Scarlett Sternberg
Zum Jubiläum herrscht offizielle Feierlaune - es gibt viel Lob für die Arbeit des Verfassungsschutzes. Doch dessen Geschichte ist sowohl eine des Schutzes als auch des Scheiterns.
Anlässlich des 75. Geburtstages vom Verfassungsschutz hat Innenminister Dobrindt auf wachsende Gefahren im In- und Ausland aufmerksam gemacht.
27.10.2025 | 3:04 minAlexander Dobrindts Rede erinnert an den historischen Gründungsmoment - an das Nachkriegsdeutschland, das seine demokratischen Organe gegen alte und neue Feinde wappnen wollte. Der "Abwehrdienst zum Schutz der Demokratie": eine Selbstbeschreibung, die heute aktueller klingt denn je. Gerade in Zeiten globaler Krisen sieht Dobrindt den Dienst als unverzichtbar an: "Wir sind Operation und Zielgebiet für Extremisten und für Terror. Und seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Bedrohungslage noch mal dramatisch verändert."
Das Ausmaß der Aktivitäten fremder Mächte gegen deutsche Interessen hat deutlich zugenommen.
Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister
Tatsächlich verzeichnet der Dienst seit Jahren eine Zunahme von Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und Spionageversuchen. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit wird dadurch immer schwieriger.
Sehen Sie hier den Festakt zum 75-jährigen Jubiläum des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) mit den Ansprachen von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), BfV-Präsident Sinan Selen und Prof. Udo Di Fabio (ehem. Bundesverfassungsrichter) in voller Länge.
27.10.2025 | 84:41 minZwischen Modernisierung und Misstrauen
Sinan Selen, seit 8. Oktober Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, beschreibt die Aufgaben seiner Behörde als ständige Anpassung an neue Gefahrenlagen: "Es sind moderne Befugnisse für die Nachrichtendienste, die auf den Weg gebracht werden und uns mit den anderen europäischen Abwehrdiensten synchronisieren.
Es sind Ressourcen, die unsere Handlungsfähigkeit, insbesondere im Bereich der Abwehr von Spionage, Sabotage und Cyberangriffen sowie Bedrohungen, stärken.
Sinan Selen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz
Doch diese Modernisierung steht unter Beobachtung. Bürgerrechtler und Datenschützer warnen vor einer Ausweitung von Befugnissen, die die Grenze zwischen Schutz und Überwachung verwischen könnten.
Selen selbst weiß um die Hypotheken der Vergangenheit. In seiner Rede erinnert er an einen der dunkelsten Momente deutscher Sicherheitsgeschichte: "Ende 2011 wurde in Deutschland der Nationalsozialistische Untergrund bekannt. Die Sicherheitsbehörden mussten der beschämenden Tatsache ins Auge sehen, dass der rechtsterroristische NSU über Jahre hinweg unentdeckt zehn Morde verüben konnte."
Dieser Satz hallt nach - und führt mitten hinein in das Spannungsfeld, das den Verfassungsschutz seit seiner Gründung begleitet: den Anspruch, die Demokratie zu schützen, und das wiederkehrende Versagen, wenn sie ihn am meisten braucht.
Es gebe "große Aktivitäten im Bereich Spionage und Sabotage", sagt Sinan Selen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Auch "internationaler Terrorismus" und "Extremismus" seien eine Gefahr.
27.10.2025 | 4:51 minDrei Krisen, die das Vertrauen erschütterten
- Der Fall Guillaume (1974): Ein DDR-Spion arbeitet im Kanzleramt. Ausgerechnet der Geheimdienst, zuständig für Spionageabwehr, übersieht den Spion. Der Skandal zwingt Kanzler Willy Brandt zum Rücktritt - und markiert den ersten großen Vertrauensverlust.
- Der NSU-Komplex (2011): Zerstörte Akten, Pannen, fehlende Kontrolle. Auch Jahrzehnte später zeigt sich: Der Verfassungsschutz hatte blinde Flecken - besonders auf dem rechten Auge. Die rechtsextreme Mordserie offenbart, wie gefährlich institutionelle Blindheit werden kann.
- Hans-Georg Maaßen (2018): Der damalige Behördenchef zweifelt öffentlich an Videos über rechte Gewalt, verliert das Amt - und driftet später selbst ins rechte Lager.
Der Tod von Enver Şimşek war erst der Anfang. Bis 2007 ermordete die rechtsextreme Terrorgruppe NSU neun weitere Menschen. Betroffene luden im September zu einer Gedenkveranstaltung ein.
09.09.2025 | 2:45 minZwischen Freiheit und Kontrolle
Immer wieder ringt der Verfassungsschutz mit seiner Rolle zwischen Schutz und Eingriff in Grundrechte. Verfassungsrechtler Udo Di Fabio mahnt:
Er muss zugleich im Blick behalten, was verteidigt wird: die offene und plurale Gesellschaft [...], damit sie keine Angst vor behördlicher Überwachung und Ausspähung kennenlernt.
Udo Di Fabio, Verfassungsrechtler
Und weiter: "Da liegt die besondere Aufgabe [...], zu tarieren: Was sind wirksame Quellen, um die Feinde der Demokratie zu beobachten - und wo darf man nicht über das Ziel hinausschießen?"
Nach 75 Jahren bleibt der Verfassungsschutz eine Behörde im Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Zweifel. Ob er aus seinen Fehlern gelernt hat - und ob die Demokratie ihren Wächter weiter trägt, wird sich zeigen.
Scarlett Sternberg berichtet aus dem ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin.
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