Migrationsrechtler Daniel Thym :Warum massenhafte Abschiebungen nach Syrien illusionär sind
Der Bürgerkrieg ist vorbei - was bedeutet das für über eine Million Syrer in Deutschland? Jurist Thym über die Rechtslage, drohende Gerichtsstaus und Alternativen zur Abschiebung.
Sehen Sie hier das Interview mit Migrationsrechtler Prof. Daniel Thym in voller Länge.
09.11.2025 | 5:36 minDer Bürgerkrieg in Syrien ist weitgehend vorbei - doch was folgt daraus für die über eine Million Syrer in Deutschland? Professor Daniel Thym, Jurist mit Schwerpunkt Migrationsrecht an der Universität Konstanz, erläutert im ZDF heute journal, wann ein Schutzstatus entfällt, warum Gerichte überlastet sind und weshalb realistische Rückkehrpolitik wohl nicht mit Zwang, sondern eher mit freiwilligen Angeboten funktionieren könnte.
Marietta Slomka: Das Argument, dass der Krieg weitgehend vorbei ist und die Menschen jetzt eigentlich wieder nach Hause müssten oder zumindest keinen Schutzstatus mehr haben, und Zerstörung im Land auch nicht dagegen spricht - ist das korrekt?
Daniel Thym: Das ist in der Form korrekt. Das muss natürlich in jedem Einzelfall geprüft werden. Da wird geschaut: Herrscht noch Bürgerkrieg? Wenn nein, dann gibt es den subsidiären Schutzstatus, den bisher die meisten haben, nicht mehr.
Allerdings prüfen die Behörden und Gerichte noch etwas Zweites. Die prüfen, ob krasse Armut droht.
Und ein Gericht hat es mal so auf den Punkt gebracht: Es muss Bett, Brot, Seife gesichert sein.
Daniel Thym, Migrationsrechtler
Bett steht für eine einfache Unterkunft. Brot steht für rudimentäre Ernährung und Seife für einfache Gesundheitsversorgung. Und zumindest in einigen Einzelfällen haben die Behörden und Gerichte schon das Fazit gezogen: Zumindest für junge, alleinstehende, erwerbsfähige Männer, die vor Ort eine Familie haben, die ihnen hilft, ist es zumutbar, nach Syrien zurückzukehren.
In Syrien haben fast 14 Jahre Bürgerkrieg nicht nur für massive Zerstörung gesorgt, vielerorts droht noch Gefahr durch Landminen. Hilfsorganisationen kümmern sich um die Räumung.
09.11.2025 | 2:38 minSlomka: Wenn Sie von Einzelfallentscheidungen sprechen, heißt das, dass im Prinzip Hunderttausende im Jahr einzelne Gerichtsverfahren anstreben könnten?
Thym: Das ist richtig. Jeder negative Asylbescheid und auch jeder Widerruf eines früheren Asylbescheids kann man einzeln vor Gericht anfechten. Das ist ein Riesenproblem.
Ganz einfach, weil die Gerichte schon jetzt 15 Monate brauchen, bis über eine Asylklage entschieden ist. Ganz einfach, weil da 180.000 Klagen anhängig sind. Wenn jetzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hinginge und 100.000, 150.000 Schutzstatus widerruft, dann würde das zu einer Masse an Klagen führen, was die Gerichte dann vorerst lahmlegt.
Slomka: Dann schauen wir uns doch mal die Zahlen an. Es sind etwas über eine Million Syrer oder Menschen syrischer Herkunft hier in Deutschland, aber davon sind ja auch schon 200.000 oder 300.000 bereits deutsche Staatsbürger geworden. Die werden ja ohnehin nicht zurückgeführt oder abgeschoben - außer sie wollten das.
Thym: Absolut, die dürfen in Deutschland bleiben, wie jeder, der einen deutschen Pass hat: Wir dürfen frei entscheiden, wo wir sind.
Aber das ist nicht nur die einzige Gruppe, die nicht abgeschoben werden kann. Daneben haben wir ungefähr 300.000 Leute, die arbeiten - und die könnten jederzeit einen anderen Aufenthaltstitel beantragen, als sie bisher haben als Arbeitskraft. Und dann sind sie auch juristisch auf der sicheren Seite.
Und wenn wir dann noch die Familienmitglieder mitzählen, von denen andere Familienmitglieder einen deutschen Pass haben oder andere Familienmitglieder arbeiten, dann kommen wir ganz schnell auf 50 bis 60 Prozent der Syrer, die nicht nur tatsächlich, sondern juristisch das Recht haben, in Deutschland zu bleiben.
Aber natürlich bleiben umgekehrt auch einige Hunderttausend, wo man dann sich die Frage stellen muss, wie sieht deren Zukunft aus?
Daniel Thym, Migrationsrechtler
Nach Äußerungen von Außenminister Wadephul (CDU) zu Abschiebungen nach Syrien gibt es Spannungen in der Union, die Kanzler Merz vermeiden wollte - und das nicht zum ersten Mal.
09.11.2025 | 2:53 minSlomka: Und wie würden Sie das realistischerweise einschätzen?
Thym: Deutschland tut sich seit Jahren bei allen Herkunftsländern unheimlich schwer mit Abschiebungen. Man muss das nur mal durchrechnen:
Wenn man ein Jahr lang jeden Werktag, also Montag bis Freitag, einen Charterflieger mit 50 Leuten nach Syrien schickt, dann hätte man im ganzen Jahr 12.000, 13.000 Leute abgeschoben.
Daniel Thym, Migrationsrechtler
Und selbst das, sagen einem Experten, die in dem Bereich arbeiten, ist schon illusorisch, dass man das schafft, jeden Tag einen Flieger mit 50 Leuten. Also rein realistisch, selbst wenn man alle juristischen und logistischen Voraussetzungen irgendwie schafft: Mehr als 5.000, 6.000, vielleicht 7.000 Abschiebungen maximal sind nächstes Jahr nicht drin.
Slomka: Dann kann man zu dem Schluss kommen, dass die Politik da falsche Erwartungen weckt.
Thym: Das müssen Sie den Bundeskanzler fragen. Wobei, wir haben ja noch die freiwillige Rückkehr. Und wenn man anfängt, einzelne Syrer abzuschieben, dann werden sich auch sicher andere Syrer überlegen, ob sie nicht das Angebot, was der Staat ja schon jetzt macht - "wenn ihr freiwillig zurückgeht, dann geben wir euch ein Startgeld von 1.000 Euro, zahlen euch natürlich auch noch die Reise" - ob sie das Angebot annehmen und dann freiwillig in die Heimat zurückkehren.
Und von daher kann man da, wenn man attraktive Gesamtpakete schnürt, schon erreichen, dass dann freiwillig noch mehr ausreisen. Aber es wird dabei bleiben: Es wird eine Minderheit sein, die allermeisten Syrer werden bleiben.
Viele, weil sie ein Recht darauf haben. Die anderen, weil es der deutsche Staat einfach auch nicht hinbekommen würde, selbst wenn er wollte, die Zwangsweise wieder zurückzuschicken.
In Deutschland ist die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihr Herkunftsland umstritten. Trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen fordert keine Gruppe eine schnelle Ausreise aller syrischer Flüchtlinge.
07.11.2025 | 1:45 minSlomka: Würde es denn helfen, wenn es diese Möglichkeit gäbe, auf Probe wieder in die Heimat zu fahren? Man kann das ja auch wirklich verstehen: Man weiß nicht, was einen dort erwartet. Und in dem Moment, wo man ausreist, verliert man seinen Schutzstatus.
Wäre es nicht sinnvoll, dass man sagt: Ihr könnt euch das in Ruhe überlegen, eventuell mit der Familie noch mal darüber reden und dann vielleicht doch einen Neuanfang in der alten Heimat beginnen?
Thym: Wenn Sie mich fragen: Ja. Und das ist genau das, was ich mit Gesamtpaket meinte.
Spätestens in dem Augenblick, wo die ersten Abschiebungsflüge nach Syrien gestartet sind, wäre meine Empfehlung an die Bundesregierung: Setzt euch hin, entwickelt eine Gesamtstrategie, sagt, welche Syrer auf jeden Fall bleiben können, und es wird garantiert die Mehrheit sein, und macht den anderen attraktive Angebote.
Erkundungsreisen für zwei, drei Wochen, ohne dass man das Risiko läuft, dass der Schutzstatus widerrufen wird - aber auch finanzielle Angebote.
Weil eins ist auch klar, wenn man auf Abschiebungen setzt, das ist rein finanziell weitaus teurer, als wenn man die Leute dabei unterstützt, sich in ihrer alten Heimat ein neues Leben aufzubauen.
Mehr zu Syrien
- Interview
Migrationsrechtler Daniel Thym :Warum massenhafte Abschiebungen nach Syrien illusionär sind
mit Video Nachrichten | heute journal:Streit in der Union nach Wadephul-Äußerungen
von D. Lessmeister /I. Trams2:53 minNachrichten | heute journal:60% der Syrer "haben das Recht zu bleiben"
5:36 min- Analyse
Diskussion über Syrien-Heimkehrer:Warum Wadephul nicht zurücktreten wird
von Mathis Feldhoffmit Video Seit Jahresbeginn:Deutlich weniger Menschen kommen aus Syrien nach Deutschland
mit VideoSyrischer Übergangspräsident:Sanktionen gegen Ahmed al-Scharaa aufgehoben
0:18 min