Warnrufe aus dem Geheimdienst:BND-Chef: Moskau will Nato-Bündnisfall testen
von Jan Schneider
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Der Bundesnachrichtendienst hat seine Warnung vor einem möglichen Angriff Russlands auf Nato-Gebiet erneuert. Dafür müsse Moskau aber "keine großen Bombenangriffe fliegen".
BND-Präsident Bruno Kahl hat in den vergangenen Jahren schon häufig vor russischen Aggressionen gewarnt.
Quelle: dpa
Es ist nicht das erste Mal, dass Bruno Kahl vor einer zunehmenden Gefahr durch Russland warnt. Seit Monaten dringt der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) immer wieder darauf, Russlands Expansionsdrang in Richtung Westen nicht zu unterschätzen.
In einem Podcast des Medienportals "Table.Briefings" betonte er nun erneut, dass die Ukraine für den Kreml nur ein Etappenziel sei - das eigentliche Ziel liege weiter westlich. In Moskau zweifelten manche bereits offen daran, dass Artikel 5 der Nato - der sogenannte Bündnisfall - im Ernstfall funktionieren würde. Das sei brandgefährlich, so Kahl:
In Moskau gibt es Leute, die glauben nicht mehr, dass Artikel 5 der Nato funktioniert. Und sie würden das gerne testen.
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Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes
Solch ein "Test" müsse nicht über offene Bombenangriffe erfolgen. Kahl nennt das Szenario "kleine grüne Männchen": russische Spezialkräfte ohne Hoheitszeichen, die in baltische Länder eindringen - unter dem Vorwand, russische Minderheiten zu schützen. Ziel wäre, die Nato vor eine Reaktionsentscheidung zu stellen: Eskalation oder Zögern?
Die Nato hat mit ihrem jährlichen Manöver in der Ostsee begonnen. An der Übung beteiligen sich 50 Schiffe, 25 Flugzeuge und 9.000 Soldaten aus 17 Ländern.08.06.2025 | 1:30 min
BND-Präsident Kahl warnte schon 2024 eindringlich vor Russland
Spätestens Ende dieses Jahrzehnts dürften russische Streitkräfte in der Lage sein, einen Angriff auf die Nato durchzuführen.
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Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes
Deutschland sei für Russland ein erklärter Gegner. Dies liege nicht zuletzt an der massiven Unterstützung für die Ukraine. Kahl sprach offen von einer "direkten Auseinandersetzung mit Russland", in der es nicht nur um die Ukraine gehe, sondern um "die Schaffung einer neuen Weltordnung".
Die russischen Geheimdienste agierten "ohne jeglichen Skrupel", so Kahl weiter, eine weitere Lageverschärfung sei "alles andere als unwahrscheinlich". Im Januar 2024 äußerte Kahl ebenfalls die gleichen Bedenken.
Im Falle eines russischen Angriffs auf Europa müssten die Europäer sich künftig vorwiegend selbst verteidigen, sagte der oberste General der EU, Robert Brieger, bei ZDFheute live. 21.05.2025 | 22:50 min
Alarmismus oder berechtigte Warnung?
Wie verlässlich sind solche Prognosen und wie realistisch ist ein Angriff auf europäisches Nato-Gebiet wirklich? Auch im ZDF wurde diese Frage schon mehrfach gestellt:
Militärexperte Christian Mölling erklärte bereits 2023 bei ZDFheute live, dass er die größere Bedrohung in einer Spaltung der Nato sieht, als durch einen direkten Angriff mit Waffen. Aber auch damals wurde Russland innerhalb der Nato schon als die größte und dringendste Gefahr für die Sicherheit der 31 Staaten im Verteidigungsbündnis eingeschätzt. In einer aktuellen Einschätzung der Nato soll damit gerechnet werden, dass Russland 2029 in der Lage sein soll, die Nato anzugreifen.
In dieser Folge fragen Katrin Eigendorf, Elmar Theveßen und Ulf Röller: Lässt der Westen die Ukraine fallen? Was passiert, wenn Trump sich endgültig von Europa abwendet?30.04.2025 | 51:56 min
Der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München betont in einem Interview mit der "ZEIT", dass er ein direktes russisches Vorrücken nach Deutschland oder Frankreich für "ausgeschlossen" hält. Die Warnung vor einem Angriff im Jahr 2029 werde strategisch eingesetzt - als Weckruf für die Bevölkerung, um höhere Verteidigungsausgaben zu rechtfertigen.
Ein Angriff auf europäisches Gebiet wäre für Russland derzeit und in den nächsten Jahren zu riskant. Ich rechne eher mit Nadelstichen - in Grenzregionen, mit kleineren Vorstößen, vielleicht sogar in unbewohnten Gebieten.
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Carlo Masala, Universität der Bundeswehr München
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel warnt ebenfalls regelmäßig vor Moskau, hält einen russischen Großangriff auf die Nato aber für unwahrscheinlich. Aber: Er sieht sehr wohl eine reale Bedrohungslage. Putins Politik sei auf Expansion und Provokation ausgelegt, erläutert er seine Einschätzung gegenüber der "Zeit". Die Jahre bis zur vollen Verteidigungsfähigkeit der Nato seien die gefährlichste Phase.
Bundeswehrinspekteur will "glaubhaft abschrecken"
Auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, warnte schon mehrfach davor, dass ein russischer Angriff auf Nato-Gebiet keine abstrakte Möglichkeit mehr sei, sondern eine reale Gefahr. Auch er geht davon aus, dass Moskau seine Streitkräfte in fünf bis acht Jahren so rekonstituiert, dass sie Nato-Territorium angreifen könnten. Er betont jedoch: "Ich sage das ganz bewusst im Konjunktiv."
Dieser Fall muss nicht eintreten, aber er kann. Deswegen müssen wir glaubhaft abschrecken, damit es eben nicht zu einem Krieg kommt.
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Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr
Gelassener äußerte sich vor einigen Wochen der finnische Präsident Alexander Stubb. Vor einem russischen Angriff habe er keine Angst, sagte Stubb im März im ZDF heute journal: Man habe Erfahrungen mit Russland, das sei Teil der finnischen Geschichte, so Stubb. Einen Angriff sehe er aktuell "nicht als mögliches Szenario".
Das Einzige, was Putin versteht, ist Macht und Stärke. Schwäche, Weichheit verführt ihn eher zum Angreifen.
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Alexander Stubb, Präsident von Finnnland
Der finnische Präsident Alexander Stubb sieht sein Land zwar von Russland bedroht, er habe allerdings keinen Zweifel an der Solidarität der USA - man müsse weiter "cool bleiben". 25.03.2025 | 6:49 min
Politischer Druck auf Entscheider wächst
Die Einschätzungen zur russischen Bedrohung variieren stark. Während einige Experten konkrete Daten und Szenarien für einen möglichen Angriff benennen, warnen andere vor Überinterpretationen und politisch motivierter Dramatisierung. Fest steht: Mit jeder Warnung wächst auch der politische Druck.
Bundeskanzler Friedrich Merz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Verteidigungsminister Boris Pistorius fordern massive militärische Investitionen. Das könnte den Kreml dazu bewegen, die ohnehin auf Hochtouren laufende Rüstungsproduktion weiter voranzutreiben. Carlo Masala bringt das Dilemma in der "Zeit" so auf den Punkt:
Wenn wir aufrüsten, rüstet Moskau ebenfalls auf. Ich sehe aber keine Alternative. Dieses Sicherheitsdilemma können wir nur entschärfen, indem wir uns defensiv zeigen.
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Carlo Masala, Universität der Bundeswehr München
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.