Polizeieinsatz in Rio: Experten fordern Sicherheitsstrategie

Rios Kampf gegen Drogenbanden:"Diese Art von Einsatz ist wirkungslos"

von Sara Rahnenführer, Rio de Janeiro

|

Rios Gouverneur nennt den blutigen Polizeieinsatz einen Erfolg gegen das organisierte Verbrechen. Kritiker sprechen von einem Massaker und fordern eine nachhaltige Strategie.

Rio de Janeiro: Einsatzkräfte in der Favela Alemão und dem Viertel Penha am 28.10.2025

Bei dem Polizeieinsatz in zwei Armenvierteln Rios wurden mehr als 120 Menschen getötet.

Quelle: dpa

Auch am Tag nach dem blutigen Polizeieinsatz gegen das organisierte Verbrechen in Rio de Janeiro zählten sie noch immer die Toten. Mehr als 120 Menschen wurden in den Gefechten zwischen der Polizei und einer berüchtigten Drogenbande getötet, laut Angaben der Regierung.

Für die Menschen in den beiden betroffenen Armenvierteln Rios bedeutete der Einsatz am Dienstag vor allem Angst, ihr Leben zu verlieren. Eine Bewohnerin, die anonym bleiben möchte, berichtete ZDFheute am Dienstagabend (Ortszeit) am Telefon:

Ich liege hier seit vier Uhr morgens mit meinen Kindern auf dem Boden unserer Wohnung. Wir haben Angst, dass wir von einer fehlgerichteten Kugel getroffen werden.

Bewohnerin aus Armenviertel

Was die Frau beschreibt, mussten Tausende Menschen am Dienstag während des Polizeieinsatzes in den beiden Favelas erleben.

Schulen, Arztpraxen und Geschäfte in weiten Teilen Rios wurden geschlossen oder öffneten gar nicht erst, der öffentliche Verkehr stand zwischenzeitlich still.

Die Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro teilte am Mittwoch mit, dass bei der blutigsten Polizeirazzia gegen Drogenbanden in der Geschichte der brasilianischen Stadt insgesamt 132 Menschen ums Leben gekommen sind.

Bei einer Drogenrazzia in Rio de Janeiro sind deutlich mehr Menschen getötet worden als zunächst vermutet.

29.10.2025 | 1:43 min

Experte: Solche Polizeieinsätze sind "wirkungslos"

Trotz der vielen Todesopfer bezeichnete der Gouverneur von Rio de Janeiro, Cláudio Castro, den Polizeieinsatz als Erfolg im Kampf gegen den "Narko-Terrorismus". Bei einer Pressekonferenz am Mittwoch sagte er:

Gestern haben wir der Kriminalität einen schweren Schlag versetzt und gezeigt, dass wir in der Lage sind, Schlachten zu gewinnen.

Cláudio Castro, Gouverneur von Rio de Janeiro

Kritiker sprechen von einem völlig unverhältnismäßigen Einsatz der Gewalt, das Wort "Massaker" macht in den Straßen von Rio die Runde.

Rios Regierung befinde sich seit Jahrzehnten im Kampf gegen die Drogenkartelle, sagt Sicherheitsexperte Roberto Uchôa vom brasilianischen Forum für öffentliche Sicherheit und kritisiert solche Aktionen scharf:

Diese Art von Einsatz ist wirkungslos, das zeigt sich schon seit Jahren. Die Ergebnisse sind erbärmlich.

Roberto Uchôa, Sicherheitsexperte

Obwohl jedes Mal Menschen festgenommen und Waffen konfisziert würden, "wird das organisierte Verbrechen immer stärker".

Menschen protestieren, während Anwohner auf dem São-Lucas-Platz in der Favela Vila Cruzeiro in Rio de Janeiro mehr als 50 Leichen aufreihen – einen Tag nacheiner tödlichen Polizeioperation.

In Rio de Janeiro haben Menschen gegen Polizeigewalt protestiert. Sie forderten den Rücktritt von Gouverneur Castro, nachdem bei einer Razzia mindestens 119 Menschen getötet wurden.

30.10.2025 | 0:28 min

Kontrolle der Drogenkartelle nimmt zu

Mehr als die Hälfte des Stadtgebiets von Rio de Janeiro wird von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Dies ergab eine Erhebung der staatlichen Universität im Jahr 2022. Erhebungen aus dem Jahr 2023 zeigen, dass die Kontrolle durch Drogenbanden weiter angestiegen ist. Erst vergangenes Wochenende gab es Gefechte zwischen rivalisierenden Gruppen.

Die organisierte Kriminalität breitet sich scheinbar ungehindert aus. Gründe für diese Entwicklung sieht die Sozialwissenschaftlerin Carolina Grillo im "totalen Versagen der Regierung", eine Sicherheitspolitik zu entwickeln:

Gouverneur Cláudio Castro hat zu keinem Zeitpunkt eine Sicherheitspolitik ausgearbeitet. Es gibt keine Sicherheitspolitik.

Carolina Grillo, Sozialwissenschaftlerin

Gleichzeitig hätten unter der Regierung Castros die tödlichsten Polizeieinsätze gegen das organisierte Verbrechen stattgefunden. Darunter das sogenannte "Massaker von Jacarezinho" im Jahr 2021 mit 28 Toten, der blutige Einsatz von Penha im Jahr 2022 mit 23 Toten und der Polizeieinsatz am vergangenen Dienstag mit mehr als 120 Toten.

Experten fordern nachhaltige Strategie, kein "Strafpopulismus"

Grillo sieht in den Polizeieinsätzen, die auf schwer bewaffneten Einheiten aufbauen, vor allem eine politische Strategie: "Die Besorgnis der Bevölkerung um die öffentliche Sicherheit veranlasst viele Politiker, diese Angst zu nutzen, um einfache Lösungen für die Kriminalität zu versprechen und so Stimmen zu gewinnen, indem sie eine Haltung einnehmen, die wir als Strafpopulismus bezeichnen", sagt die Sozialwissenschaftlerin.

Laut brasilianischen Sicherheitsexperten braucht es eine nachhaltige Strategie, um die Kriminalität einzudämmen. Die Mehrzahl der getöteten und der über 80 verhafteten Personen sind junge schwarze Männer. Daher sei es wichtig, Perspektiven für diese jungen Menschen zu schaffen.

"Die Polizei muss vor Ort bleiben. Und ergänzend dazu müssen öffentliche Maßnahmen ergriffen werden", sagt der Sicherheitsexperte Roberto Uchôa.

Wenn man diesen Jugendlichen keine Zukunftsperspektive bietet, werden sie weiterhin kriminellen Organisationen beitreten.

Roberto Uchôa, Sicherheitsexperte

Kontrolle für Polizeieinsätze gefordert

Die Sozialwissenschaftlerin Carolina Grillo sieht vor allem Handlungsbedarf bei der Kontrolle der Polizeieinsatzkräfte: "Es ist von grundlegender Bedeutung, dass es eine demokratische Kontrolle der Polizeieinsätze gibt, beispielsweise durch den Einsatz von Kameras. Und es braucht neben der Staatsanwaltschaft auch externe Kontrollinstanzen für die Polizei."

Grillo sieht auch strategische Fehler bei der Ermittlungsarbeit der Polizei. Diese müsste an den grundlegenden Strukturen ansetzen und sich - jenseits der Favelas - auch auf die Geschäfte der kriminellen Gruppen außerhalb des Drogenhandels konzentrieren. So etwa auf den Immobilienmarkt, der ebenfalls eine wichtige Einnahmequelle sei.

Mehr Nachrichten aus Brasilien

  1. König Charles vor dem Empfang von brasilianischen Indigenen

    Bewahrung des brasilianischen Regenwaldes:Indigene danken König Charles für Umweltengagement

    mit Video

  2. Proteste in Brasilien

  3. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Archivfoto)

    Lula wird 80:Brasiliens Präsident: Verehrt und ambivalent

    Christoph Röckerath, Rio de Janeiro
    mit Video

  4. Jair Bolsonaro verlässt ein Krankenhaus in Brasilia.

    Brasiliens Ex-Präsident:Hautkrebs bei Jair Bolsonaro diagnostiziert

    mit Video