Vor Leichtathletik-WM: Athletinnen berichten über Missbrauch

Missbrauch in der Leichtathletik:"Er hat mir dann gesagt, dass er mich liebt"

von Christina Zühlke und Michael Haselrieder
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ZDF frontal deckt vor der WM in Tokio Missstände im deutschen Leichtathletik-Spitzensport auf. Zum ersten Mal reden Athletinnen über Grenzüberschreitungen durch ihre Trainer.

Sprinterin aus der unteren Perspektive beim Start auf Laufbahn

Aufdringliche Liebesbekundungen, übergriffige Chats und sexueller Missbrauch: Verbirgt sich hinter dem Kampf um Medaillen ein System, in dem Trainer ungestraft ihre Macht missbrauchen können?

09.09.2025 | 43:58 min

Eileen Demes, Deutschlands Top-Hürdenläuferin über die 400 Meter, zittert, als sie sich zum Interview hinsetzt. Aber sie zieht durch. Nach zehn Jahren bricht sie ihr Schweigen. Darüber, dass ihr mehr als doppelt so alter Trainer ihr Liebesbriefe schrieb. Sie unter Druck setzte. Sie war 17, er Ende 40, als er sie an seinem Geburtstag zum Essen einlud:

Da hat er mir dann gesagt, dass er mich liebt und dass er es schön fände, jeden Tag neben mir aufzuwachen.

Eileen Demes

Hürdenläuferin Demes und sieben weitere aktuelle und ehemalige Kaderathletinnen erheben in einer Dokumentation von ZDF frontal Vorwürfe gegen ihre früheren Trainer. In verschiedenen Fällen geht es um Grenzüberschreitungen, wie nächtliche Chat-Nachrichten, aber auch um sexuellen Missbrauch.

Betroffen sind die Landesverbände in Baden, Berlin, Hessen und Niedersachsen. In einem Fall in Mannheim hat die Staatsanwaltschaft Anklage wegen sexueller Nötigung erhoben. In einem weiteren Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft Hannover. Der Deutsche Leichtathletik-Verband prüft, ob diesem Trainer die Lizenz entzogen wird. Einem anderen Trainer aus Hessen wurde die A-Trainerlizenz bereits entzogen.  

Eileen Demes

Hürdenläuferin Eileen Demes macht erstmals öffentlich, was sie jahrelang verschwieg: Grenzüberschreitungen durch ihren Trainer.

Quelle: Beautiful Sports

Liebesbekundungen und Übergriffe

Warum redet Eileen Demes erst jetzt? Warum hat sie fast zehn Jahre geschwiegen? Sie habe sich hilflos gefühlt, sagt sie. Ihre Angst: Wenn sie sich beschwert, gibt es keinen anderen Trainer, keine andere Trainingsgruppe in der Nähe. Sie wollte ihre Leidenschaft, die Leichtathletik, nicht verlieren und schwieg.

Erst sieben Jahre später schafft sie es, Verein und Trainer zu wechseln. Sie sagt niemandem warum. Der Trainer bleibt im Verein. Die Sportlerin ahnt, dass auch ihre ältere Schwester zum unfreiwilligen Liebesobjekt des Mannes wurde. Und sie befürchtet, es könne weitere Opfer geben.

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Sie hat Recht. In einem anderen Fall bleibt es nicht bei Liebesbekundungen. Der Trainer fordert eine minderjährige Athletin auf, ein gemeinsames Hotelzimmer zu nehmen, dort zusammen zu schlafen. Aber sie traut sich, das dem Hessischen Leichtathletik-Verband zu melden.

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08.01.2025 | 2:33 min

Carsten Ebert, der Geschäftsführer des Verbandes, spricht daraufhin auch mit anderen Athletinnen und entscheidet: Der Trainer muss gehen. Ebert bemängelt, dass im Fall von Missbrauch und Übergriffe zu oft noch ein Auge zugedrückt wird:

Da wird der Erfolg über das Agieren des Trainers gestellt und es werden Fehlverhalten toleriert, ich würde nicht sagen akzeptiert, aber toleriert, die man eigentlich nicht tolerieren kann.

Carsten Ebert, Hessischer Leichtathletik-Verband

Deutscher Leichtathletik-Verband überprüft Trainerlizenzen

Ein weiteres Problem: Trainer ziehen weiter. Auch der Trainer von Eileen Demes findet schnell einen neuen Job. Erst als die Vorwürfe durch Hürdenläuferin Demes im Zuge der ZDF-Recherchen bekannt werden, muss er auch dort gehen.

Nach einer Prüfung der Vorwürfe durch den Deutschen Leichtathletik-Verband wurde dem Trainer die Lizenz entzogen. Kristin Behrens, die Direktorin Sportentwicklung beim DLV, bestätigt im frontal-Interview: "Wenn sich die Informationen verdichten, wir belastbare Ergebnisse haben, handeln wir sofort und unmittelbar." Der Trainer hat auf eine schriftliche Anfrage von frontal nicht reagiert.

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Auch in einem Fall aus Hannover prüft der DLV, ob ein Trainer seine Lizenz behalten darf. Gleich drei ehemalige Landes- und Bundeskader-Athletinnen erheben im frontal-Interview schwere Vorwürfe. Sie wollen anonym bleiben, haben Angst vor der Reaktion des Trainers.

Eine von ihnen zeigt eine Chatnachricht, die der Trainer ihr 2022 geschrieben habe, als sie 16 Jahre alt war. "Würde mich schon mal interessieren wie du abgehst", heißt es da. Und: "Aber zur Not guck ich auch zu wenn du mit einem anderen Gas gibst".

Chat-Nachricht

Diese Chatnachricht soll eine 16-jährige Sportlerin von ihrem Trainer erhalten haben.

Quelle: ZDF

Athletinnen sollten sich nackt ausziehen

Aber die Vorwürfe in Hannover reichen noch weiter. Zwei Athletinnen berichten von einem Physiotherapieraum. Dort habe der Trainer sie jeweils aufgefordert, sich nackt auszuziehen, habe sich selbst auch ausgezogen, sie berührt und sich selbst befriedigt.

Angestellt war der Trainer beim Niedersächsischen Leichtathletik-Verband. Verbandspräsident Dieter Schünemann, ehemaliger Innenminister von Niedersachen, reagiert geschockt auf die Vorwürfe gegen den damaligen Trainer:

Das macht einen wirklich sehr betroffen, und insofern müssen wir wirklich hinterfragen, wie kann man es erreichen, dass man solche Hinweise bekommt.

Dieter Schünemann, Niedersächsischer Leichtathletik-Verband

Der Verband hat nach eigenen Angaben inzwischen Anzeige erstattet und auch eine betroffene Athletin. Nach ZDF-frontal-Informationen ermittelt die Staatsanwaltschaft. 

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Eine Athletin aus Hannover erklärt, warum sie sich vor drei Jahren nicht meldete: "Ich hatte ein Ziel. Ich wollte an die Weltspitze, ich wollte was erreichen. Ich habe ihm wirklich mein vollstes Vertrauen dafür gegeben, und es hat ja auch funktioniert. Ich wusste zuvor einfach nur nicht, dass das der Preis ist, dass ich mich entblößen muss oder dass ich etwas preisgebe, dass Grenzen überschritten werden."

Dieser Trainer hat auf eine Anfrage von frontal hin alle Vorwürfe von einer Anwältin zurückweisen lassen. Sie schreibt von "haltlosen und unbewiesenen Unterstellungen".

"Trainer-Hopping" als Problem

Auch dieser Trainer betreute später an einem anderen Standort neue Athleten. Von "Trainer-Hopping" spricht die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus. Sie kritisiert den Deutschen Leichtathletik-Verband.

Aus meiner Sicht hat der Sport massive Schutzlücken und das liegt genau auch daran, dass Tatpersonen, die letztlich das Ziel der sexuellen Ausbeutung haben, sehr leicht in einen anderen Verband wechseln können.

Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung

Claus sieht die rechtlichen Hürden, fordert aber, es müsse dennoch ein wirksames Mittel dagegen gefunden werden, dass Trainer nach einem Fehlverhalten einfach woanders weitermachen. "Dort, wo Einrichtungen, Strukturen des Sportes nicht sachgerecht agieren, muss man auch ganz klar über die Kürzung von Mitteln nachdenken", sagt Claus.

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Wir arbeiten an einer konkreten Lösung, um diese Lücke zu schließen.

DLV-Vertreterin Kristin Behrens

Es solle in Zukunft möglich sein, zu prüfen, ob ein Trainer überhaupt eine aktive Lizenz habe, um im Spitzensport arbeiten zu dürfen.

Demes feiert sportliches Comeback

Zwei Monate nach ihrem ersten Interview zu den Grenzüberschreitungen des ehemaligen Trainers startet Eileen Demes beim internationalen Leichtathletik-Wettbewerb Istaf in Berlin. Sie gewinnt, läuft persönliche Bestzeit und sichert sich die WM-Teilnahme. Nur eine Woche später, bei den Deutschen Meisterschaften in Dresden, verteidigt sie ihren Titel als deutsche Meisterin.

Sie läuft die schnellste Zeit, die je eine Frau bei den Deutschen Meisterschaften über 400 Meter Hürden gelaufen ist. Endlich über die Verfehlungen des Trainers zu reden, sei eine Befreiung gewesen, sagt sie anschließend. Am kommenden Wochenende beginnt die Leichtathletik WM in Tokio. Dort will sie vorn mitlaufen.

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