Interview
KZ-Gedenken in Dachau:"Stehen an einem historischen Scheidepunkt"
von Jutta Sonnewald und Elisa Miebach
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Vor 80 Jahren befreiten amerikanische Soldaten die Gefangenen im Konzentrationslager Dachau. So manchen Überlebenden begleitet die Shoah noch jede Nacht - heute mehr denn je.
"Nie wieder" - mit einem großen Transparent ziehen Schülerinnen und Schüler durch das bayerische Örtchen Bad Tölz. In ihrer Mitte: der 97-Jährige Abba Naor. Er lebe zwei Leben, erzählt der Holocaust-Überlebende - eines bei Tag und eines bei Nacht. Nachts sei er immer noch im Lager.
Vor 80 Jahren wurde Naor hier mit mehr als 10.000 anderen jüdischen KZ-Häftlingen von SS-Schergen auf den sogenannten Todesmarsch getrieben - vom KZ Dachau gen Süden, sieben Tage lang, völlig ausgemergelt, bei Schnee und Regen, ohne Verpflegung.
Tausende sind unterwegs gestorben. Ende April bis Anfang Mai 1945 wurden die Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau und seinen 169 Außenlagern von den Amerikanern befreit.
Erst mit 17 Jahren, nach vier langen Jahren, hab‘ ich angefangen wieder zu leben.
Abba Naor, Holocaust-Überlebender
Holocaust-Überlebender führt Gespräche an Schulen
Abba Naor erzählt Schülerinnen und Schülern am Gabriel-von-Seidl-Gymnasium in Bad Tölz davon, wie alles anfing - mit dem Antisemitismus, der zunehmenden Drangsalierung und wahllosen Ermordung von Juden bis hin zur Deportation ins litauische Ghetto Kaunas.
Der in Litauen geborene Abba Naor hat Hunger, Verfolgung und Demütigung erlebt - im Ghetto, in Konzentrationslagern und schließlich auf dem Todesmarsch. Ein Großteil seiner Familie wurde von den Nazis umgebracht. Nur sein Vater und er haben überlebt.
Abba Naor (zweiter v.l.) im Winter 1941/42 auf dem Weg zu einer illegal eingerichteten Schule im Ghetto Kaunas.
Quelle: Abba Naor
Heute lebt Abba Naor mit seiner Familie in Israel. Zur Zeit ist er in Bayern - für die Gedenkfeierlichkeiten zur Befreiung der Konzentrationslager Dachau und seiner Außenlager vor 80 Jahren und für Zeitzeugengespräche an Schulen.
Gedenkfeier im ehemaligen Konzentrationslager Dachau
An den 80. Jahrestag der Befreiung wird in ehemaligen Konzentrationslagern in ganz Deutschland und Europa in diesen Monaten erinnert.
Im ehemaligen Konzentrationslager Dachau, das als eines der ersten von den Nazis eröffnet wurde, wird am Sonntag mit einem ökumenischen Gottesdienst, einem russisch-orthodoxen Gottesdienst sowie einer jüdischen Gedenkstunde der Befreiung gedacht. Im Anschluss findet eine zentrale Gedenkfeier statt.
Das Konzentrationslager wurde vom NS-Regime bereits am 22. März 1933 eröffnet. Mehr als 200.000 Gefangene, darunter Juden, Sinti und Roma, homosexuelle Menschen und politische Gegner aus über 40 Nationen waren in dem KZ und seinen Außenlagern inhaftiert. Mindestens 41.500 von ihnen starben. Am 29. April 1945 wurde es von der US-Armee befreit.
Naor: "Die Leichen haben sich gestapelt"
Der Überlebende Abba Naor wurde auch in Kaufering bei Landsberg am Lech in einem der Außenlager von Dachau gefangen gehalten. Die Nazis zwangen die völlig geschwächten und unterernährten Gefangenen riesige unterirdische Bunker zu bauen für die Herstellung von Kampfflugzeugen. Ihr Ziel: 'Vernichtung durch Arbeit'.
Ihre Arbeit sei es gewesen, Zementsäcke von 50 Kilo im Laufschritt zu transportieren, in Zwölf-Stunden-Schichten. "Die Leichen haben sich gestapelt, die ganze Woche, Berge von Leichen", sagt Abba Naor. Beim Bau kamen innerhalb von zehn Monaten mehr als 23.000 Menschen ums Leben, vor allem Juden, verschleppt als Arbeitssklaven aus Osteuropa.
'Monster' nennt Abba Naor diesen Bunker. Sein Glück sei es gewesen, nicht lange in diesem Lager gewesen zu sein. Das sei der Grund, warum er heute noch hier sitze.
Knobloch: Demokratie noch nie so bedroht wie heute
Bei der Gedenkfeier zur Befreiung dieses KZ-Außenlagerkomplexes am 2. Mai zog die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, auch einen Bezug zur heutigen Zeit. Noch nie seit damals sei die Demokratie bei uns und in Europa so bedroht gewesen wie heute.
"Wir stehen an einem historischen Scheidepunkt", sagt Knobloch:
Bei uns in Deutschland sitzt eine rechtsextremistische antisemitische Partei als zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
Der offene, gewaltbereite Judenhass habe Ausmaße angenommen, die jüdische Menschen wieder in Angst leben ließen wie seit dem Holocaust nicht mehr.
Naor appelliert an die Jugend
Am Tag der Befreiung fanden amerikanische Soldaten völlig ausgemergelte, entkräftete Menschen, unzählige Leichen und Erdhütten, wo die Gefangenen primitiv und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen untergebracht wurden.
"Wenn man einmal dem Tod so nah war, dann liebt man das Leben", sagt Abba Naor. Über seine verlorene Kindheit und das erlebte Martyrium zu sprechen, fiel ihm lange schwer. Doch inzwischen kommt er regelmäßig aus Israel für Zeitzeugengespräche mit jungen Deutschen.
Für ihn eine Art Therapie, für sie eine Gelegenheit einen der noch wenigen Überlebenden der Shoah persönlich kennen zu lernen. Genau deshalb und auch, um einem zunehmenden Antisemitismus Einhalt zu gebieten, ist Abba Naor die Begegnung mit jungen Menschen so wichtig. "Unsere Zeit ist vorbei, aber die Jugend von heute: Ihr habt eine Aufgabe", sagt der Überlebende zu den Schülerinnen und Schülern.
Jutta Sonnewald und Elisa Miebach sind Reporterinnen im ZDF-Landesstudio Bayern.
Quelle: dpa
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