Wer wurde am 8. Mai 1945 von wem befreit? | Terra-X-Kolumne
Kolumne
Terra X - die Wissens-Kolumne:Wer wurde am 8. Mai 1945 von wem befreit?
von Karsten Uhl
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Der 8. Mai 1945 ist in Deutschland als Tag der Befreiung anerkannt. Das war nicht immer so. Im Zentrum des Erinnerns sollten die nach Deutschland verschleppten Menschen stehen.
Anders als in der DDR setzte sich in der Bundesrepublik erst in den 1980er-Jahren der 8. Mai als der "Tag der Befreiung" durch. Zuvor wurde er vor allem mit dem "Zusammenbruch" und einer nationalen "Katastrophe" verbunden.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Tradition der Erinnerung am historischen Ort
Heute wird an mehreren Gedenktagen an die Befreiung vom Nationalsozialismus erinnert. Der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar ist der zentrale Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Im April und Mai wird dann in vielen deutschen Gedenkstätten an die Befreiung der Konzentrationslager gedacht. Diese Form des Erinnerns am historischen Ort hat eine Tradition bis in die direkte Nachkriegszeit.
Für Millionen Menschen, die aus allen Teilen Europas nach Deutschland verschleppt wurden, war die deutsche Kriegsniederlage genau dies: eine Befreiung. Anfang 1945 waren über 700.000 Menschen in KZ-Haft, etwa zwei Millionen in Kriegsgefangenschaft und etwa sechs Millionen wurden in zivilen Zwangsarbeitsverhältnissen ausgebeutet.
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Todesmärsche nach den Räumungen der Lager
Die Befreiung eines Lagers bedeutete jedoch nicht ein unmittelbares Ende des Leidens. Die sowjetische Armee fand am 27. Januar nur 7.500 abgemagerte und schwer kranke Häftlinge in Auschwitz vor. In den Wochen zuvor hatte die SS knapp 60.000 KZ-Häftlinge nach Westen getrieben.
Etwa ein Viertel dieser Menschen starb auf dem Weg. Viele Häftlinge brachen völlig erschöpft zusammen, andere wurden von ihren Bewachern erschossen. Die meisten derjenigen, die Auschwitz und diesen ersten Todesmarsch überlebten, erlitten noch eine weitere Haft in deutschen Konzentrationslagern.
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Die letzten Monate der Qualen
Allein im Zeitraum von Januar bis Mai 1945 verloren etwa 300.000 KZ-Häftlinge ihr Leben. Die Bewacher übten brutale Gewalt aus, vor allem aber hatten sie mörderische Arbeits- und Lebensbedingungen in den Lagern geschaffen. Noch Anfang April 1945 gab es zehn KZ-Hauptlager mit über 400 Außenlagern, in denen über 550.000 Häftlinge gefangen gehalten wurden.
Selbst in der Auflösungsphase gründete die SS noch neue Lager. So wurde im Februar 1945 das Außenlager Wöbbelin in Mecklenburg eingerichtet. Es gehörte zum Komplex des KZ Neuengamme, dessen mehr als 85 Außenlager sich über Nordwestdeutschland verteilten. Mit dem Vorrücken der britischen Truppen wurden 5.000 Häftlinge aus Neuengamme und einigen Außenlagern nach Wöbbelin verschleppt. Fast jeder fünfte Häftling überlebte die mörderischen Verhältnisse nicht.
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Auch nach dem Kriegsende ging das Sterben weiter: Allein in den drei Wochen bis Ende Mai starben in ganz Deutschland über 25.000 befreite KZ-Häftlinge an den Folgen der Haft.
Befreite und Täter
Für die Millionen im Nationalsozialismus Verfolgten war der 8. Mai ein Tag der Befreiung. Dabei darf nicht vergessen werden, dass zuvor Millionen Menschen, insbesondere Juden, sowjetische Kriegsgefangene sowie Sinti und Roma ermordet worden waren. Als Anerkennung der Verantwortung für diese Verbrechen waren die klaren Worte, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 sprach, von großer Bedeutung:
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
„
Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1985
Jedoch droht die Rede von "uns allen", die vom Nationalsozialismus befreit worden seien, die breite Trägerschaft des NS-Regimes in der deutschen Bevölkerung zu verschleiern.
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Die Massenverbrechen an KZ-Häftlingen in Hunderten von Außenlagern und auf den Todesmärschen waren in deutschen Städten und Dörfern überdeutlich sichtbar. Die seltenste Reaktion war Hilfe für die Häftlinge, die häufigste Wegsehen und Schweigen. Viele Deutsche beteiligten sich aktiv und teilweise vorauseilend an den Verbrechen. Millionen Deutsche gehörten zu jenen, vor denen KZ-Häftlinge befreit werden mussten.
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...ist Leiter der Abteilung Dokumentation und Forschung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg und Privatdozent an der Georg-August-Universität Göttingen. Bis 2023 war er Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, bis 2024 Vorsitzender der Gesellschaft für Technikgeschichte. Sein jüngstes Buch „Technology in Modern German History” (2022) ist 2024 in chinesischer Übersetzung erschienen.
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