Nach Lizenzentzug im Ausland:Warum Ärzte in Deutschland weiterpraktizieren können
In Deutschland arbeiten mehr als 30 approbierte Ärzte, die in einem anderen Land bereits ihre Lizenz wegen Behandlungsfehlern oder krimineller Delikte verloren haben. Warum?
Wer seine Approbation in Deutschland einmal erhalten hat, kann oft trotz Lizenzverlust im Ausland hierher zurückkehren und praktizieren.
Quelle: Bernd Weissbrod/dpaLyngdal in Südnorwegen. Wenn die Nacht einbricht, kommt der Schmerz. Finn Åge Olsen ist dann stundenlang wach, windet sich im Bett, während sein rechtes Bein von Krämpfen geschüttelt wird. Dieses rechte Bein macht ihm die Nacht zur Hölle, dabei ist es vor acht Jahren amputiert worden. Nur ein Stumpf ist davon übriggeblieben.
Phantomschmerz heißt das im medizinischen Fachjargon. Was gespenstisch klingt, ist oft tragische Normalität bei Menschen, denen Gliedmaßen amputiert worden sind. Sie spüren immer noch das Zucken, Kribbeln, die Taubheit: "Der Kopf gewöhnt sich nie daran," sagt Olsen gegenüber ZDF frontal.
Finn Åge Olsen hat seinen Unterschenkel wegen Behandlungsfehlern verloren.
Quelle: ZDF/Anne SmithNorwegen zahlt 1,3 Millionen Euro Schmerzensgeld
Unerträglich bleibt für ihn der Gedanke, dass er seinen Unterschenkel deshalb verloren hat, weil ein Arzt grobe Fehler machte. Vor acht Jahren kam Finn Åge Olsen mit einem Knöchelbruch ins Krankenhaus der nahe gelegenen Kleinstadt Flekkefjord. Doch zwei Operationen, die der deutsche Arzt O. vornahm, liefen schief: Platten und Schrauben lösten sich, der Fuß entzündete sich schwer, irgendwann war auch der Knochen von Bakterien befallen, sein Unterschenkel musste amputiert werden.
Später stellte Finn Åge Olsen fest, dass er nicht das einzige Opfer dieses Arztes ist. In 58 Fällen zahlte die norwegische Gesundheitsbehörde eine Summe von insgesamt 1,3 Millionen Euro Schmerzensgeld und entzog 2021 O. die Lizenz. Zudem schrieb sie an die deutsche Botschaft in Oslo und warnte eindringlich vor ihm. Trotzdem praktiziert O. heute in Deutschland, zurzeit in einem Ort am Bodensee. Anfragen beantwortet O nicht. Im Interview mit ZDF frontal sagt Sjur Lehmann von der norwegischen Gesundheitsbehörde auch vier Jahre später noch:
Unserer Auffassung nach - basierend auf unserem Wissen über diesen Fall - befürchten wir, dass er überall eine Gefahr für Patienten darstellt - wo auch immer er sich entscheidet weiter zu praktizieren.
Sjur Lehmann, Gesundheitsbehörde Norwegen
Schätzungen: Jährlich verlieren mehrere hundert Ärzte ihre Lizenz
Mehr als 30 Mediziner, die im Ausland beispielsweise wegen Abrechnungsbetrug, schweren Behandlungsfehlern oder sexuellem Missbrauch an Patientinnen ihre Lizenz entzogen bekommen haben, können heute unbehelligt in deutschen Praxen oder Krankenhäusern weiterarbeiten. Wer seine Approbation in Deutschland einmal erhalten hat, kann oft trotz Lizenzverlust im Ausland hierher zurückkehren und praktizieren.
Das ist ein Ergebnis des internationalen Rechercheprojekts Bad Practice, für das 50 Medien, darunter ZDF frontal, Der Spiegel, die britische Times und der norwegischen Verdens Gang zusammengearbeitet haben. Gemeinsam wurden Gerichtsdokumente, Datenbanken und Behördenunterlagen mit insgesamt 2,5 Millionen Einträgen ausgewertet - koordiniert durch das Recherchenetzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP).
Eine internationale Recherche von ZDF frontal zusammen mit dem Spiegel und über 100 Journalisten aus mehreren Ländern kommt zu dem Ergebnis: Mehr als 30 Mediziner, denen im Ausland die Lizenz entzogen wurde, arbeiten derzeit in deutschen Praxen oder Krankenhäusern weiter.
Quelle: Pierre Bouchez"Wie viele Patienten müssen noch sterben?"
Für Patienten in Deutschland ist es schwer, sich unabhängig über Ärzte zu informieren - denn anders als in einigen anderen Ländern gibt es hier keine öffentlichen Register und auch Ärztekammern und Behörden verweigern häufig Auskünfte mit Hinweis auf den Datenschutz. In Großbritannien etwa können Patienten in einem Ärzteregister nachschauen, welchen Medizinern die britische Lizenz entzogen wurde - wie im Falle des Arztes P.
"Wie viele Patienten müssen noch sterben, bis dieser Arzt überall ein Berufsverbot bekommt?", fragt sich Nicola B. aus Bilsthorpe, England. Von ihrer Mutter Denise B. sind ihr nur die Erinnerungen geblieben. "Sie war ein lebhafter, fröhlicher Mensch", sagt Nicola B. und ist sich sicher: Ihre Mutter wäre nicht so abrupt aus dem Leben gerissen worden, wenn sie im Frühjahr 2017 in einer Klinik in Nottingham die ärztliche Hilfe bekommen hätte, die sie dringend benötigte.
Nicola B. trauert um ihre Mutter.
Quelle: ZDF/René FeldmannArzt entschied: Beschwerden nicht lebensbedrohlich
Denise B. bekam an jenem Tag kaum Luft. Nicola B. rief einen Krankenwagen, der sie in die Notaufnahme brachte. Die Sanitäter und auch das medizinische Klinikpersonal verabreichten der Mutter Sauerstoff. Die Krankenschwestern hatten bereits ein Bett für sie auf einer Station bereitgestellt. Doch vorher sollte sie noch P. untersuchen. Es war sein erster Arbeitstag mit Patienten in der Klinik. P. habe eine Nasenendoskopie durchgeführt, erinnert sich Nicola B. im Gespräch mit ZDF frontal. P. hätte dann entschieden, die Beschwerden seien nicht lebensbedrohlich, es sei "kein Notfall". Daraufhin entließ er Denise B. Das sei ihr "Todesurteil" gewesen, glaubt Nicola B.
Junge Ärztinnen und Ärzte zieht es oft in die Städte – auf dem Land fehlen jedoch Haus- und Fachärzte. Der Ansturm auf die wenigen Praxen ist groß, Termine zu bekommen schwierig.
22.05.2025 | 1:29 minNoch in derselben Nacht starb Denise B. zu Hause in ihrem Bett. Die Ermittlungen der Klinik ergaben: Die 67-Jährige litt an einer unerkannten Lungenentzündung und multiplen Systematrophie. Sie wäre an jenem Tag wahrscheinlich nicht gestorben, wenn P. sie nicht nach Hause geschickt und sie im Krankenhaus weiterhin Sauerstoff bekommen hätte, so das Fazit des Untersuchungsberichts.
Zwei Patienten starben nach Operation
Die Klinik suspendierte daraufhin P., im Jahr 2021 entzog ihm die britische Gesundheitsbehörde die Lizenz, auch weil P. den Umfang einer Untersuchung der niederländischen Gesundheitsbehörde gegen ihn verschwiegen hatte. Laut einem Bericht der niederländischen Aufsichtsbehörde vom April 2017 hatte er vier Patienten unzureichend versorgt, zwei verstarben bei beziehungsweise nach einer Operation. Er wurde vorläufig suspendiert, behielt seine Lizenz vorerst aber unter Auflagen.
Nachdem aber die britische Gesundheitsbehörde P. die Lizenz entzog, verlor er diese auch in den Niederlanden. Heute arbeitet P. als niedergelassener Arzt legal in Süddeutschland. Er weist auf Anfrage von ZDF frontal die Vorwürfe von Behandlungsfehlern entschieden zurück. Insbesondere sei seine Entscheidung, Denise B. zu entlassen, nicht ursächlich für ihren Tod gewesen. Des Weiteren lässt er durch seinen Anwalt mitteilen, dass er den "Hinterbliebenen sein Mitgefühl entgegenbringt und ihre Trauer nachvollziehen kann".
Nach einem brutalen Angriff in einer Berliner Notaufnahme an Silvester 2023 beginnt nun der Prozess. Zwei der drei Täter stehen vor Gericht, der dritte ist spurlos verschwunden.
12.03.2025 | 2:31 minBehörden kannten Vorgeschichte der Ärzte
Die Recherchen von ZDF frontal und seinen Medienpartnern zeigen: Im Fall von P. wie auch in mindestens elf weiteren Fällen waren deutsche Behörden über die Vorgeschichte der Ärzte informiert. Die Warnungen kamen auch über das europäische "Binnenmarkt-Informationssystem" (IMI). Die Behörden aller Mitgliedstaaten sind verpflichtet, innerhalb von drei Tagen zu melden, wenn ein Arzt oder eine Pflegekraft etwa aufgrund von Disziplinarmaßnahmen oder Strafurteilen nicht mehr praktizieren darf.
An das IMI-System angeschlossen sind die Approbationsbehörden der Bundesländer, bei ihnen laufen IMI-Warnungen ein. In den Fällen der Ärzte O. und P. wusste das Regierungspräsidium Stuttgart offenbar von dem Lizenzentzug beider Ärzte im Ausland. Warum die Behörde O. und P. die ursprünglich in Deutschland erteilte Approbation in der Folge nicht entzogen hat, darüber schweigt sie.
Lücken beim Informationsaustausch
Ein weiteres Problem: Lücken beim Informationsaustausch der Behörden, Beispiel: Schweiz. Ein dort als Sexualstraftäter verurteilter Arzt arbeitet heute wieder in Deutschland. Er hatte eine Patientin mit Erkältungssymptomen vaginal untersucht - "ohne medizinische Indikation", wie ein Gericht 2023 in letzter Instanz urteilte. Die Schweiz ist nicht Teil des IMI-Informationssystems, deutsche Behörden wurden daher nicht gewarnt, dass S. dort neben einer Bewährungsstrafe auch ein lebenslanges Berufsverbot bekommen hat.
Inzwischen praktiziert er in Düsseldorf. Weil S. schon über eine Approbation in Deutschland verfügte, gab es bei seiner Rückkehr offenbar weder von der zuständigen Landesärztekammer Nordrhein noch von der Bezirksregierung eine Überprüfung. Erst in Reaktion auf die Recherche von ZDF frontal und seinen Medienpartnern hat die Bezirksregierung Düsseldorf ein Verfahren eingeleitet. Ob S. am Ende die deutsche Approbation entzogen werden wird, ist offen.
"Der Trend geht dahin, dass sich mehrere Ärzte zusammentun und gemeinsam die bürokratische Last und Personal teilen", so Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU), zur Situation von Hausärzten.
18.09.2025 | 5:54 min"Es tut mir leid für die deutschen Patienten"
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze (SPD), kritisiert auf Nachfrage von ZDF frontal die deutschen Behörden scharf: Wer seine Zulassung wegen Sexualstraftaten oder strafrechtlicher Verfolgung verloren habe, "der darf hier ganz besonders nicht praktizieren." Schwartze fordert eine Überprüfung der Bundesgesetzgebung und der Meldesysteme. Die zuständige Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) kann ein Interview zu dem Thema "leider nicht einrichten".
Dass Ärzte, die im Ausland ihre Lizenz verloren haben, weiter in Deutschland praktizieren, schockiert auch den Norweger Finn Åge Olsen:
Es tut mir leid für die deutschen Patienten. Es ist beängstigend.
Finn Åge Olsen
Mehr zum Gesundheitswesen
Konflikte beim Arztbesuch:Was tun, wenn Ärzte Grenzen überschreiten
von Karen GrassKritik an Arbeitgeber-Vorschlag:Patientenschützer warnen vor Kontaktgebühr
mit VideoGesundheitsversorgung:1.200 Patienten im Schnitt pro Hausarzt
mit Video- Analyse
Verdächtige vor Tat entlassen:Hamburger Angreiferin: Haben Psychiater versagt?
von Svenja Kantelhardtmit Video