Messerattacke in Hamburg: Haben die Ärzte versagt?

Analyse

Verdächtige vor Tat entlassen:Hamburger Angreiferin: Haben Psychiater versagt?

von Svenja Kantelhardt
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Die Tatverdächtige hinter dem Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof wurde erst einen Tag zuvor aus der geschlossenen Psychiatrie entlassen. Wie kann das sein?

Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof
18 Menschen wurden bei der Messerattacke vergangenen Freitag verletzt, einige davon schwer.
Quelle: ddp

Anfang Mai als "hilflose Person" aufgefunden, kam die Tatverdächtige der Messerattacke in Hamburg nach Angaben des niedersächsischen Gesundheitsministeriums drei Wochen lang in eine geschlossene Psychiatrie und wurde dort behandelt.
Vergangenen Donnerstag wurde sie entlassen. Laut der Klinik gebe es keinen medizinisch-akuten Befund, der eine weitere Unterbringung gerechtfertigt hätte. Wie sieht so ein Verfahren zur Unterbringung aus und gibt der aktuelle Fall Anlass, etwas daran zu ändern?
Mehrere Verletzte bei Messerangriff in Hamburg
Nach dem Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof befinden sich alle Verletzten wieder außer Lebensgefahr. 24.05.2025 | 1:35 min

Die Unterbringung - eine Ausnahme

In Deutschland können Menschen aus verschiedenen Gründen auch ohne oder sogar gegen ihren Willen in geschlossene Einrichtungen, wie zum Beispiel Psychiatrien gebracht werden. Psychisch Kranke werden nach entsprechenden Landesgesetzen untergebracht, wenn sie für sich oder andere eine erhebliche Gefahr darstellen.
Das ist nur selten der Fall, erklärt Christoph Lenk, Facharzt für Psychiatrie: "Psychisch kranke Menschen sind bis auf ganz wenige Ausnahmen überhaupt nicht gefährlich." Auch wird eine solche Unterbringung nur als letztes Mittel angeordnet. Erst dann, wenn eine Gefahr anders nicht mehr abzuwenden ist.

Der rechtliche Rahmen

Diese Unterbringung ist grundrechtssensibel: Die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt. Unter Umständen werden Menschen auch fixiert, also angebunden, erklärt ein Sprecher der Gerichtspressestelle in Hamburg.

Es handelt sich um einen der grundrechtsintensivsten Eingriffe, die wir kennen.

Fabian Vogelsang, Oberlandesgericht Hamburg

Umso wichtiger, dass das Verfahren kontrolliert abläuft. Dabei bestimmen Gesetze Fristen: Bis zu einem Jahr darf eine Unterbringungsmaßnahme höchstens dauern. Die Maßnahmen werden laufend evaluiert.
Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof
Seit vergangenen Freitag geschahen in Hamburg drei schwere Messerattacken. Mehr als 15 Menschen wurden dabei verletzt. In zwei Fällen konnte der Täter festgenommen werden, ein Täter ist flüchtig.26.05.2025 | 3:43 min

Der springende Punkt - die Gefahrenprognose

Zur Begrenzung der Unterbringung gehört auch, dass man wieder freikommen kann, sobald man keine Gefahr mehr darstellt. Ob dem so ist, das beurteilen zwar Richter. Die verlassen sich ohne medizinischen Sachverstand aber maßgeblich auf die behandelnden Ärzte.
Regelmäßig wird der Stationsarzt zum Sachverständigen bestellt und dessen Einschätzung dann meist auch gefolgt. Ausschlaggebend ist die sogenannte Gefahrenprognose. Ist der Mensch in Zukunft eine Gefahr für sich oder andere? In eine solche Gefahrenprognose fließen verschiedene Faktoren ein.
Abgesperrte Bereiche in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs sowie mehrere Polizeiautos.
Die Frau, die mit einem Messer wahllos auf Passanten einstach, wurde in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen. Die 39-Jährige war polizeibekannt.24.05.2025 | 1:41 min

"Wir haben keine Glaskugel"

Es geht in erster Linie um den aktuellen psychischen Zustand, aber auch die Vergangenheit spielt eine Rolle: der Anlass der Unterbringung, die Entwicklung des Krankheitsbildes und eine reibungslose Medikamenteneinnahme - all das kann sich auf die Gefahrenprognose auswirken.
Und die bleibt zunächst eine solche - eine absolute Sicherheit kann es nach Expertenmeinung nicht geben.

Wir haben unsere Erfahrungen und die Studienlagen, aber keine Glaskugel.

Christoph Lenk, Facharzt für Psychiatrie

Niemand könne "in den Kopf eines Menschen hineinsehen", erklärt Psychiater Lenk. "In einer offenen Gesellschaft wie dieser wird es niemals eine hundertprozentige Sicherheit geben. Mit diesem Restrisiko müssen wir leben."
Bedeutet das eine Entlastung für die Ärzte, die am Donnerstag die folgenschwere Einschätzung abgaben, die Tatverdächtige sei nicht mehr gefährlich?
Der Hamburger Hauptbahnhof.
ZDFheute live zum Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof23.05.2025 | 6:22 min

Die falsche Entscheidung - aber war sie auch fahrlässig?

Ganz so einfach ist es nicht. Einerseits hat nach "Bild"-Informationen die Tatverdächtige eine gewalttätige Vergangenheit. So soll sie etwa im Februar ein kleines Mädchen am Hamburger Flughafen angegriffen haben.
Falls das zutrifft und den Verantwortlichen bekannt war, sei die Entscheidung der Verantwortlichen schlicht nicht nachzuvollziehen. Bei Menschen, die in einer Psychose Fehlhandlungen begehen, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es erneut zu solchen Fehlhandlungen käme.

Das sind Warnsignale, auf die man unbedingt achten sollte. Da geht es um Sorgfalt.

Christoph Lenk, Facharzt für Psychiatrie

Erschwerend käme hinzu, dass gerade schizophrene Patienten in Kliniken extrem ungern gesehen sind. Störungen, Randale und Fluchtversuche können einen Klinikalltag enorm belasten. Einen Platzmangel gibt es auch in Psychiatrien.
Auf der anderen Seite aber kann eine Gefahrenprognose nur auf Grundlage der Daten abgegeben werden, die verfügbar sind. Datenschutz und ein föderales System könnten dazu geführt haben, dass die Informationen den Entscheidungsträgern schlicht nicht bekannt waren.
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