Jahrestag des Unglücks von Novi Sad :Serbien zwischen Trauer und politischem Aufbruch
von Michael Sommer
Ein Jahr nach dem Dacheinsturz in Novi Sad mit 16 Toten wird in Serbien getrauert und protestiert. Das Unglück hat eine Protestbewegung gegen die Regierung ausgelöst.
Ein Jahr nach dem Einsturz eines Bahnhofsvordach im serbischen Novi Sad haben Tausende Menschen an einem Protestzug teilgenommen. Sie werfen der Regierung Korruption vor.
01.11.2025 | 0:25 minAm 1. November 2024 stürzte in Novi Sad das Dach des frisch renovierten Hauptbahnhofs ein. 16 Menschen verloren dabei ihr Leben - unter ihnen auch der 27-jährige Sohn Stefan von Dijana Hrka. Heute, genau ein Jahr später, gedenken Tausende diesem tragischen Ereignis.
Ein Jahr nach dem Einsturz eines Daches im serbischen Novi Sad gedenken hunderttausend Menschen der Opfer. ZDF-Korrespondent Bewerunge berichtet von einem "bewegenden Moment".
01.11.2025 | 1:07 minUm 11:52 Uhr, dem Zeitpunkt des Einsturzes, legten Menschen in ganz Serbien für 16 Minuten das Leben still. In Novi Sad formierte sich die größte zentrale Demonstration - eine Mischung aus stillem Gedenken und lautstarker politischer Anklage.
Ich habe meinen Sohn verloren. Er wollte einfach nur den Zug nach Hause nehmen
Dijana Hrka, Mutter eines der Opfer
"Ein Jahr später weiß ich noch immer nicht, wer verantwortlich ist. Und niemand sagt uns die Wahrheit", sagt die Mutter.
Von Gedenken zu Protest - wie der Einsturz zum Symbol wurde
Der Fall Novi Sad ist zu einem Symbol geworden - nicht nur für staatliches Versagen, sondern für ein ganzes politisches System, das viele Serben als korrupt, arrogant und menschenverachtend empfinden. Die Renovierungsarbeiten am Bahnhof wurden ohne transparente Ausschreibung an regierungsnahe Firmen vergeben. Eine juristische Aufarbeitung? Bis heute Fehlanzeige.
Vor einem Jahr stürzte die Bahnhofshalle im serbischen Novi Sad ein. Seitdem gibt es jeden Freitag Demos gegen Verantwortliche, denen Korruption und mangelhafte Bauaufsicht vorgeworfen wird.
31.10.2025 | 2:34 min"Es geht hier längst nicht mehr nur um ein Dach", sagt der politische Analyst Srdjan Cvijić. "Der Bahnhofsvorbau ist auf 16 Menschen gefallen - aber der serbische Staat droht auf uns alle zu fallen." Er spricht von einem "pyramidalen System": autoritär, von Vetternwirtschaft durchzogen, mit einer Justiz, die nicht mehr unabhängig ist. Die Institutionen seien laut Cvijić "praktisch von der regierenden SNS (Partei von Aleksandar Vučić ) gekapert", und die einzigen Wege zur Gerechtigkeit führten für viele Bürger nur noch über die Straße.
Serbien befindet sich de facto im Ausnahmezustand, sagt Balkan-Experte Vedran Džihić. Er glaubt, dass Präsident Vučić noch autoritärer vorgehen könnte.
06.09.2025 | 15:06 minDie Proteste, die nach dem Unglück begannen, dauern nun schon ein Jahr an. Und sie haben eine neue Dynamik entfaltet: Erstmals beteiligen sich auch bisher unpolitische Schichten - Schüler, Studierende, Familien. "Diese Bewegung hat das Wählerpotenzial der Regierungspartei tief erschüttert", sagt Cvijić. Besonders die junge Generation - zuvor als politikverdrossen abgestempelt - ist zur Speerspitze des demokratischen Protests geworden.
Präsident Aleksandar Vučić gerät zunehmend unter Druck. Zwar versucht seine Regierung mit Verschwörungstheorien, Gegendemonstrationen und repressiven Maßnahmen gegenzusteuern - doch der Rückhalt bröckelt.
Serbien zwischen EU, Russland und China
Auch außenpolitisch laviert Serbien: Während Vučić in Brüssel Reformbereitschaft signalisiert, sucht er gleichzeitig die Nähe zu Russland und China. Cvijić spricht von einer "rein deklarativen EU-Ausrichtung", hinter der sich eine Strategie verbirgt: "Man will europäische Fördergelder kassieren, aber politisch bleibt man autoritär - im Stil Russlands oder Belarus."
Die Wut über das Unglück in Novi Sad hat sich längst mit der Unzufriedenheit über den Zustand des Landes vermischt. Inflation, Energiekrise, Perspektivlosigkeit - viele Menschen empfinden ihre Lebensrealität als zunehmend bedrückend. "Wir haben kein Vertrauen mehr", sagt eine Demonstrantin, die von Belgrad zu Fuß nach Novi Sad läuft. "Nicht in die Politik, nicht in die Justiz, nicht in die Medien."
Serbien kommt nicht zur Ruhe – Studierende, Landwirte und Bürger gehen auf die Straße – gegen Korruption, Machtmissbrauch und wachsenden Einfluss Russlands.
24.09.2025 | 6:28 minDie Europäische Union, lange Zeit zurückhaltend gegenüber Vučić, hat zuletzt den Ton verschärft. Das EU-Parlament sprach in einer Resolution von einem "autokratischen Regime", der nächste Bericht der EU-Kommission wird mit Spannung erwartet.
Protestierende fordern Neuwahlen
Innerhalb Serbiens mehren sich Rufe nach Neuwahlen - doch die Regierung zögert. Cvijić warnt: "Die einzige Lösung dieser politischen Krise sind Neuwahlen. Aber Vučić wird sie nur zulassen, wenn er sich ihrer Manipulierbarkeit sicher ist."
Eins jedoch ist sicher: Es wird kein Zurück mehr geben. "Novi Sad hat etwas verändert", sagt Dijana Hrka. "Nicht nur in meinem Leben, sondern im ganzen Land."
Michael Sommer ist Mitarbeiter im ZDF-Studio Wien.
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