40 Jahre Schengen-Abkommen: Eine Erfolgsstory der EU?
Interview
40 Jahre Schengen-Abkommen:"Eine der größten Errungenschaften der EU"
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Schengen: Synonym für das grenzenlose Europa. Doch kommt diese Idee durch die Migrationsproblematik an seine Grenzen? Ein Gespräch mit Magnus Brunner, EU-Kommissar für Migration.
Am 14. Juni 1985 unterzeichneten fünf europäische Länder das Abkommen von Schengen. Das Ziel: der Abbau der Grenzkontrollen. Doch an einigen Grenzen wird heute wieder kontrolliert.14.06.2025 | 2:26 min
ZDFheute: 40 Jahre Schengen, ein Jubiläum, eigentlich ein Grund zur Freude. Ist es mittlerweile, Stichwort Rückkehr der Grenzkontrollen, auch ein bisschen eine Trauerfeier?
Magnus Brunner: Nein, Schengen ist auf jeden Fall eine Jubelfeier, eine Erfolgsstory. Schengen ist eine der größten Errungenschaften, die wir in der Europäischen Union haben. Es ist der größte Raum weltweit, wo man sich frei bewegen kann. Wir hatten gerade Rumänien, Bulgarien, Kroatien, die beigetreten sind, Zypern möchte das auch. Natürlich gibt es Herausforderungen. Und Schengen ist etwas, das wir ständig weiterentwickeln müssen. Weil sich die Bedrohungen ändern.
Quelle: epa
Magnus Brunner ist EU Innen- und Migrationskommissar. Brunner gehört der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) an und war vor seinem Posten bei der EU-Kommission Finanzminister seines Landes.
Nach Jahrzehnten offener Grenzen werden wieder Pässe kontrolliert. Scheitert die EU an der Grenzpolitik ihrer Mitgliedsstaaten? Mehr dazu im "heute journal - der Podcast"06.06.2025 | 40:26 min
ZDFheute: Sie sagen weiterentwickeln, entwickelt sich da nicht eher etwas zurück? Grenzkontrollen etwa, die eigentlich nur schwer in Einklang zu bringen sind mit dem Geist von Schengen. Betrachten Sie das mit Sorge?
Brunner: Ja, auf jeden Fall macht es mir Sorgen, weil der Schengen-Raum eben funktionieren muss. Aber wir müssen auch als Europäische Union gemeinsam mit den Mitgliedstaaten unsere Hausaufgaben machen. Beispielsweise die Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, GEAS, ein ganz wichtiger Punkt, um die Außengrenzen besser zu schützen. Damit innerhalb Europas, innerhalb des Schengens-Raums, keine temporären Grenzkontrollen mehr notwendig sind. Ich verstehe nämlich schon die Sorgen mancher Mitgliedsstaaten, die sich unter Druck gesetzt fühlen, auch von der Migrationssituation.
2024 beschlossen, soll die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bis Mitte 2026 umgesetzt werden, mit den Kernpunkten:
Jeder Neuankömmling wird innerhalb von 7 Tagen identifiziert und in einer gemeinsamen Datenbank erfasst.
Einführung eines beschleunigten Grenzverfahrens (maximal 12 Wochen) für Asylbewerber aus Ländern mit niedrigen Anerkennungsquoten
Verpflichtende Solidarität: EU-Staaten leisten pro Asylbewerber entweder Aufnahme oder finanzielle Hilfe (20 000 Euro/Person)
Einheitliche Standards für Unterbringung, Gesundheitsversorgung, Schutzstatus und Überprüfung der Anerkennung
Bei massiven Ankunftswellen greifen Notfallmechanismen und EU-Unterstützung
Die EU-Kommission möchte abgelehnte Asylbewerber schneller und konsequenter abschieben. Dafür soll eine einheitliche Lösung für alle Mitgliedsstaaten gefunden werden.11.03.2025 | 1:30 min
ZDFheute: Die Ungeduld scheint zu wachsen. Wenn sich etwa in den Niederlanden plötzlich Bürger auf die Straße stellen und kontrollieren, in Form von Selbstjustiz. Auf der Suche nach Asylsuchenden, die illegal einreisen könnten. Kippt da was in Europa?
Brunner: Unsere Aufgabe ist es gerade deshalb, die GEAS-Reform umzusetzen, das wäre die Lösung. Also nicht die 100 Prozent perfekte Lösung, aber ein Riesenschritt. Drum macht es mich natürlich auch nervös, dass wir bei der Umsetzung von GEAS nicht schneller sind. Oder bei der Rückführungsverordnung plus der Liste über sichere Drittstaaten und Ursprungsländer. Das sind alles Dinge, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Europäische Union, in das Schengen-System, in die Europäische Union zurückzugewinnen. Weil wir den Menschen wieder das Gefühl geben müssen, dass wir Kontrolle über das haben, was in Europa passiert.
Vor 40 Jahren haben fünf europäische Länder das Schengen-Abkommen geschlossen, das es ermöglicht ohne Kontrollen Grenzen zu überqueren. Heute sind 29 Staaten Teil des Abkommens.14.06.2025 | 1:32 min
ZDFheute: Wie schauen Sie konkret auf die Grenzkontrollen, die Deutschland durchführen lässt, sehr zum Unmut einiger Nachbarn, auch zum Unmut der EU-Kommission?
Brunner: Wir sind da in sehr gutem Austausch mit Deutschland, sowohl mit Minister Dobrindt natürlich, aber auch mit Bundeskanzler Merz. Ich verstehe, dass Deutschland gewisse Sorgen hat, und die müssen wir auch ernst nehmen. Wichtig ist auch zu sagen, dass es ja gewisse Möglichkeiten gibt für Mitgliedstaaten, Grenzkontrollen umzusetzen, die temporär sein müssen, ja selbstverständlich, und die immer in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten vonstatten gehen müssen. Und diese Koordination der Zusammenarbeit, das ist auch unsere Aufgabe, da unterstützen wir Deutschland auch gerne.
Im Schengen-Raum, gegründet durch einen Vertrag, unterzeichnet vor 40 Jahren im gleichnamigen Ort in Luxemburg, gilt:
Wegfall der Binnengrenzkontrollen für Personen.
Freier Warenverkehr, so dass Güter ohne systematische Zollkontrollen über Grenzen im EU-Binnenmarkt transportiert werden können.
Gemeinsame Außengrenze mit einheitlichen Einreisebestimmungen und Visapolitik.
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.
Der Schengen-Raum besteht aus 29 europäischen Ländern (nicht alle EU-Mitgliedern, aber auch Nicht-EU-Staaten) und ist ein Kernbestandteil der Freizügigkeit für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Und symbolisiert den praktischen Wegfall nationaler Grenzen im europäischen Alltag und Handel.
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von Elena Chapoutier
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ZDFheute: Liegt der Schlüssel zur Lösung, wenn überhaupt, nicht fast allein auf der EU-Ebene? Kein Mitgliedsstaat kann ja allein agieren?
Brunner: Sie haben Recht. Die europäische Dimension ist enorm wichtig, gerade bei diesen Themen wie Sicherheit oder Migration. Nur gemeinsam können wir auch Lösungen für eben Europa schaffen. Wenn jeder als Mitgliedsland seinen eigenen Weg geht, wird es nicht funktionieren.
Das Gespräch führte ZDF-Korrespondent Andreas Stamm in Brüssel.