Notaufnahmelager Gießen: Bruch mit dem alten Leben

Gedenkstätte in Gießen:Abschied und Ankommen in einem geteilten Land

Porträt der ZDF-Landesstudioleiterin Hessen Susanne Biedenkopf-Kürten
von Susanne Biedenkopf
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Das Notaufnahmelager Gießen war über Jahrzehnte Startpunkt in ein neues Leben - auch für DDR-Flüchtlinge. Jetzt ist hier eine eindrucksvolle Gedenkstätte entstanden.

Gedenkstätte Notaufnahmelager Gießen
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Sichtlich bewegt steht Henry Bäz mit seiner Frau Doris am Eingang der ehemaligen Notaufnahme in Gießen. Auf den Tag genau 48 Jahre ist es her, dass er hier als Siebzehnjähriger 1977 nach seiner lebensgefährlichen Flucht aus der DDR durch den Schaalsee im Westen ankam.

Es war der Beginn von Freiheit.

Henry Bäz

Er sei in diesem Moment vor allem unendlich erleichtert gewesen, dass er es geschafft habe, glücklich über die Aussicht, nicht mehr in einer Diktatur leben zu müssen und künftig nach freiem Willen handeln zu können.
Er hatte sich spontan zu diesem Schritt entschieden, nach einer Party - und war mit einem Freund auf einem geliehenen Motorrad von Thüringen in Richtung Ostsee aufgebrochen. Sein Motiv beschreibt er mit einem Wort: Freiheitsdrang.
Henry und Doris Bäz betrachten die Dokumentation in der Gedenkstätte.
Doris und Henry Bäz in der Gedenkstätte
Quelle: ZDF

Der schmerzhafte Bruch mit dem alten Leben

Für seine Familie hatte die Flucht Konsequenzen. Der Vater, der als Abgeordneter im Suhler Bezirksparlament saß, verlor sein Mandat und die Arbeitsstelle. Auch seine Schwester wurde versetzt und degradiert. Erst Jahre später konnte Henry Bäz die Familie wiedersehen.
Der Aufbruch in das neue war auch ein schmerzhafter Bruch mit dem alten Leben, Familie, Freunden und auch der Heimat. Es dauerte Jahre, bis er seine Familie wiedersah. Bereut hat er seine Entscheidung aber nie, sagt er.
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Gedenkstätte: Hilfsanfragen gibt es bis heute

Für viele Menschen, erzählt uns der Leiter der Gedenkstätte, Dr. Florian Greiner, "bedeutete die Flucht den kompletten Abbruch mit der Heimat, auch weil die Kommunikationsmittel noch andere waren."
Es sei wahnsinnig schwierig gewesen, mit der Verwandtschaft, mit den Freunden, die man zurückgelassen hatte, in Kontakt zu kommen. Bis heute kämen regelmäßig Anfragen, "ob wir helfen können, Personen zu finden, die etwa in den achtziger Jahren hier angekommen sind". Jeder vierte DDR-Flüchtling durchlief zwischen 1950 und 1990 das Gießener Lager.
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Mit Mauerbau ging Zahl der Flüchtlinge zurück

Bis zum Bau der Mauer waren die steinernen Baracken am Meisenbornweg völlig überfüllt. Die eindrucksvolle Dokumentation im früheren Speisesaal des Lagers zeigt: Fotos von langen Schlangen vor den Gebäuden, Gedränge oder handschriftliche Aufrufe "sich Nachts ruhiger zu verhalten - schon der Kinder zuliebe." Die meisten verbrachten nur einige Tage hier, wurden medizinisch untersucht, ausgiebig befragt und anschließend auf die Bundesländer verteilt.
Mit dem Bau der Berliner Mauer ging die Zahl der Flüchtlinge in den Westen drastisch zurück. Das Lager war mit seinen 800 Betten über Jahre nur zu zehn Prozent belegt. Modelle zur Nutzung des freien Raums wurden überlegt.
"Es gab natürlich einen Bedarf", erklärt Greiner, "etwa der Justus-Liebig-Universität, ein Studierendenwohnheim. Die Kriminalpolizei war zwischenzeitlich mit Büroräumlichkeiten in einem Teil des Gebäudes untergebracht."
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Und ein altes Gaststättenschild zeigt, dass auf dem Gelände auch gern gemeinsam Bier getrunken wurde. "Das hat", so Florian Greiner, durch das offene Miteinander "auch unbeabsichtigt Integrationsmomente geschaffen".

Staatssicherheit schleuste Spione ein

Die DDR beobachtete das Lager argwöhnisch. In den Stasi-Akten firmierte es als "Einrichtung mit Feindtätigkeit gegen die DDR". Die Staatssicherheit schleuste Spione ein, die über Lagerabläufe und das Personal berichteten. Skizzen der Räumlichkeiten im Lager und sogar Portraits der Mitarbeiter wurden akribisch angefertigt und mit genauen Angaben in die Zentrale geschickt.
Schätzungsweise 900.000 Menschen durchliefen zwischen 1950 und 1990 das Gießener Lager. Nach der Wiedervereinigung blieb die Einrichtung bestehen, für Asylsuchende aus aller Welt. 2018 wurde sie geschlossen. Die Gedenkstätte Notaufnahmelager Gießen erinnert uns an die bewegte Geschichte des kleinen Lagers in Mittelhessen, das Ankommen und Abschied bedeutete, in einem geteilten Land.
Susanne Biedenkopf ist Leiterin des ZDF-Studios in Hessen.

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