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Fremdenhass in der DDR:Erfurt 1975: Wie es zur Jagd auf Algerier kam
von Melanie Haack
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Im August 1975 jagten Erfurter Jugendliche algerische Arbeiter tagelang durch die Stadt. Enthemmter Fremdenhass, der in der DDR verschwiegen wurde. Wie konnte das geschehen?
Der Domplatz in Erfurt war 1975 der Ausgangspunkt brutaler Hetzjagden gegen algerische Vertragsarbeiter.
Quelle: dpa
Im Sommer 1975 machten in Erfurt viele Gerüchte die Runde. Es hieß, Algerier würden deutsche Frauen belästigen. Sie würden sie vergewaltigen. Am 10. August eskalierte die Stimmung auf dem Domplatz. Es war Volksfest, das auch rund 25 Algerier besuchten. Ihre Begleiterinnen seien als "Schlampen und Nutten" bezeichnet worden, berichtet Zeitzeuge Hamdane Abboud heute.
Erfurt war im Ausnahmezustand
Er erzählt von Beschimpfungen und Angriffen. Es kam zu einer Massenschlägerei mit Bürgern der DDR. Die Algerier flohen durch die Stadt, sie wurden gejagt. Bis zu 300 Jugendliche sollen an dieser Jagd beteiligt gewesen sein, zum Angereck, dann zum Bahnhof, bis vor ihr Wohnheim. Hamdane Abboud wurde mit Schlägen auf den Kopf attackiert.
Hamdane Abboud, Abdelkader Manaa und Ali Seddiki (v.l.) wurden 1975 von Erfurter Jugendlichen angegriffen.
Quelle: ZDF
Tagelang gab es Ausschreitungen; Verfolgungen, teils mit Stangen. Es waren Hetzjagden. Im Wohnheim der Vertragsarbeiter wurden Flugblätter gefunden. Darauf stand "DDR-Faschisten". Am Tag nach den ersten Übergriffen streikten die Vertragsarbeiter. Erfurt war im Ausnahmezustand. Es waren die ersten bekannten Massenhetzjagden auf Ausländer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Gesuchte Arbeitskräfte auf Zeit
Die DDR-Führung hatte 1974 ein Abkommen mit dem nordafrikanischen Land geschlossen. Zu der Zeit benötigte die DDR dringend Arbeitskräfte. Im Sommer 1975 kamen 150 junge Algerier nach Erfurt, nur für wenige Jahre befristet. Ein dauerhaftes Leben in der DDR war nicht gewollt. Sie sollten eine Ausbildung in den Betrieben machen, etwa als Brückenbauer oder Betonwerker.
Oft aber erlebten die Anfang 20-Jährigen harte Arbeit auf dem Bau. Untergebracht waren die "ausländischen Werktätigen", wie sie in der DDR genannt wurden, in Wohnheimen am Stadtrand. Hamdane Abboud und seine Freunde Ali Seddiki und Abdelkader Manaa bekamen Verträge für vier Jahre. Sie erzählen, dass sie zu sechst in den Wohnungen lebten.
Warum konnte die Situation so eskalieren?
Nach ihrer Ankunft machten in Erfurt Gerüchte über ihre Lebensbedingungen und angeblich höheren Löhne die Runde. Der Historiker Jan Daniel Schubert hat sich intensiv mit den Ereignissen beschäftigt. An der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt hat er das Projekt "algerische Arbeitsmigranten in der DDR" betreut.
Es gab enorm viele Vorurteile und Gerüchte. Ihr Ankommen wurde von der SED-Führung nicht kommuniziert. Dadurch konnten die Gerüchte noch einmal eine eigene Dynamik entfalten.
Jan Daniel Schubert, Oral History Forschung Uni Erfurt
Schubert fügt hinzu: "Das Abkommen mit Algerien war für vier Jahre gedacht. Das war die Politik. Von staatlicher Seite war Integration nicht gewollt."
Der Algerier Hamdane Abboud bangte bei den tagelangen Hetzjagden durch Erfurt um sein Leben. "Ein Albtraum", sagt er heute.
Quelle: ZDF
Hamdane Abboud erzählt über die Tage in Erfurt: "Es war ein Albtraum. Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke." Durch die Schläge verlor er das Bewusstsein. Sein Freund Ali wurde am Hauptbahnhof von den Tätern umzingelt.
Ich danke Gott, dass ich noch lebe.
Hamdane Abboud, Opfer der Erfurter Hetzjagden
Aufarbeitung im Sinne der Staatsführung
In den Tagen nach den pogromartigen Ausschreitungen gab es eine Aussprache mit Stadt und Polizei. Ali berichtet, er habe dort über den Rassismus gesprochen. Man habe ihnen erklärt, dass westliche Mächte dahinter stünden.
Tatsächlich griffen die Staatsorgane durch. Fünf sogenannte Rädelsführer wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Begründung, die öffentlich gemacht wurde, bezog sich auf vorsätzliche Tätlichkeiten gegen Bürger und rowdyhafte Ausschreitungen. Kein Wort über die Taten gegen Algerier.
Rassistische Motive wurden verschwiegen. Sie passten nicht zur DDR, die sich selbst als antifaschistischer Staat bezeichnete. Historiker Schubert erklärt, dass die DDR und die Vergangenheit in Ostdeutschland oft so dargestellt würden, als habe es früher keine Migration gegeben.
"Das ist faktisch falsch", sagt er. Es sei gerade heute wichtig, die Geschichte aufzuarbeiten, "um zu verstehen, welche Kontinuitäten es in der gesamtdeutschen Gesellschaft letztendlich gibt, die von einer kolonialen und einer nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen". Er wünscht sich vor allem mehr Forschung zum Thema Alltagsrassismus in der DDR.
Gedenken 50 Jahre nach der Jagd auf Algerier
50 Jahre danach lädt in diesen Tagen die Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt zum Gedenken ein. Hamdane Abboud, Ali Seddiki und Abdelkader Manaa sind auch gekommen. In seiner Rede erzählt Ali Seddiki, dass er ohne die Hilfe seiner algerischen Freunde heute wohl nicht mehr am Leben wäre.
Und gleichzeitig sind sie alle dankbar für diejenigen Menschen, die sie in Erfurt willkommen hießen, sagen sie. Kollegen, Freunde, die ihre Türen in jenen Tagen öffneten. Sie öffneten für algerische Vertragsarbeiter, die 1975 auf Zeit in die DDR kamen, um den Arbeitskräftebedarf zu decken - und gleichzeitig nie Teil der Gesellschaft werden sollten.
Abdelkader Manaa kam in den 70ern als Arbeitskraft nach Erfurt.
Quelle: Privat
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