Krankenkasse: Hohe Beiträge durch versicherungsfremde Leistungen?
Versicherungsfremde Leistungen:Wenn Kassenpatienten zahlen statt des Staats
von Katja Belousova und Marta Orosz
|
Gesetzlich Versicherte zahlen nicht nur für Medizin und Arztbesuche, sondern tragen auch Kosten der Allgemeinheit. Über kaum bekannte Leistungen, die für viel Kritik sorgen.
Den gesetzlichen Krankenversicherungen könnte 2025 eine Finanzierungslücke von 47 Milliarden Euro entstehen. Dabei zahlen die Beitragszahler nicht nur für Ärzte und Medizin.03.06.2025 | 8:02 min
Wegen steigender Krankenkassenbeiträge zieht Armin Haberkorn vor Gericht. Wie so viele gesetzlich Versicherte erhielt auch der 65-Jährige aus Rheinland-Pfalz zum Jahreswechsel einen Brief seiner Kasse.
"Da stand dann irgendwo in einem Nebensatz: Wir müssen Beiträge erhöhen, und das auch noch überdurchschnittlich. Das hat mich verärgert und angetrieben, etwas zu tun", erzählt er im Gespräch mit ZDF frontal.
Man darf sich da einfach nicht alles gefallen lassen und anschließend dann über die böse Politik schimpfen.
„
Armin Haberkorn
Um durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte stiegen die Beiträge der gesetzlich Versicherten zuletzt. Das liegt nicht nur an Kosten für Medikamente und Arztbesuche.
Finanzierung der Krankenhausreform in der Kritik
Armin Haberkorn glaubt, dass seine Beiträge zweckentfremdet werden, zum Beispiel für die milliardenschwere Krankenhausreform. 50 Milliarden Euro sollten laut Ampel-Koalition in die Reform fließen - die eine Hälfte bezahlt von den Bundesländern, die andere von den gesetzlichen Krankenkassen.
Der Bundes-Klinik-Atlas ist ein kleiner Baustein umfassender Reformen im Klinikbereich. Geplant ist außerdem, die Kliniken in bestimmte Gruppen einzuteilen: Nicht mehr alle Kliniken sollen alle Behandlungen machen dürfen, und einige könnten womöglich auch geschlossen werden.
Ziel ist ein Abbau von Doppelstrukturen, eine stärkere Spezialisierung und eine bessere finanzielle Ausstattung der Kliniken. Fallpauschalen sollen künftig nur noch 40 Prozent der Finanzierung im laufenden Betrieb ausmachen, 60 Prozent des Geldes sollen Kliniken für die Vorhaltung bestimmter medizinischer Angebote erhalten.
Allerdings löse das die Finanzprobleme und Fehlanreize im System nicht, so Fachleute wie Gerald Gaß und Wolfgang Greiner: Dafür müssten die Kosten der Kliniken für das Vorhalten ihres medizinischen Angebots unabhängig und abgekoppelt von den Fallzahlen vergütet werden.
Aus diesem Grund legte er Widerspruch bei seiner Krankenkasse ein. Die IKK Südwest lehnte den Widerspruch ab, also zog Armin Haberkorn vors Sozialgericht in Koblenz.
Fast alle gesetzlichen Krankenkassen haben ihre Beitragssätze 2025 drastisch erhöht. Trotzdem werde die medizinische Versorgung für Kassenpatienten nicht besser.04.02.2025 | 9:47 min
Der größte Sozialverband Deutschlands, der VdK, unterstützt die Klage. Die Krankenhausreform sei ein wichtiges Transformationsvorhaben, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. "Aber das hat die Regierung beschlossen für die ganze Gemeinschaft der Patientinnen und Patienten und nicht nur für die gesetzlich Versicherten".
Das sind ganz klassische, sogenannte versicherungsfremde Leistungen, die allen zugutekommen.
„
Verena Bentele, Präsidentin der VdK
Zusatzkosten durch versicherungsfremde Leistungen
Doch was meint Bentele, wenn sie von versicherungsfremden Leistungen spricht?
Primäre Aufgabe der Krankenkassen ist es, Behandlungskosten ihrer Versicherten zu finanzieren. Doch darüber hinaus übernehmen die Krankenkassen in Deutschland Leistungen, die keinen direkten Bezug zu einem Krankheitsfall haben, sondern zur allgemeinen Daseinsvorsorge gehören: sogenannte versicherungsfremde Leistungen.
"Wir sehen schon seit drei Jahren überhaupt keine strukturellen Reformen, die angeschoben werden", so Timo Sorge (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher, zu Defiziten im Gesundheitssystem.15.10.2024 | 5:44 min
Dazu gehören etwa die Mitversicherung von Kindern und nicht-erwerbstätigen Ehepartnern, die Krankenversicherung im Bürgergeld oder das Kinderkrankengeld - und vieles mehr.
Inzwischen signalisiert die neue Bundesregierung, die Kassen bei der Krankenhausreform entlasten zu wollen - mit Geld aus dem 500 Milliarden Euro schweren Sondervermögen.
Krankenkassen fordern, dass der Bund versicherungsfremde Leistungen daher vollständig übernimmt. "Die Beitragssätze könnten um 0,5 Prozentpunkte geringer sein, wenn die versicherungsfremden Leistungen vollständig refinanziert werden", sagt Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen.
Es würde einen "Riesenunterschied" machen, ob die versicherungsfremden Leistungen durch die ca. 55 Millionen gesetzlich Versicherten oder durch alle Steuerzahler bezahlt würden, erklärt Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbands.
Bei den Krankenkassenbeiträgen gibt es eine Beitragsbemessungsgrenze. Das heißt: Bis zu einem Jahreseinkommen von 66.150 Euro im Jahr zahlen Versicherte Beiträge entsprechend ihres Gehalts. Danach steigen die Beiträge jedoch nicht mehr. Das heißt: Jemand der 66.150 Euro im Jahr verdient zahlt genauso hohe Krankenkassenbeiträge wie jemand, der 100.000 Euro im Jahr verdient.
"Wenn ich es aus Steuergeldern bezahle, dann sind alle Menschen in diesem Land daran beteiligt, denn jeder von uns bekommt Lohnsteuer abgezogen, wir zahlen Mehrwertsteuer, Einkommenssteuer, Vermögensteuer, und da gibt es keine Beitragsbemessungsgrenze", erklärt Lanz. Wer ein höheres Einkommen habe, zahle auch mehr. Statt Steuergeldern Beitragsgelder zu nutzen, sorge aber dafür, dass wenige Menschen mehr zahlen müssen. Das sei "sozial ungerecht".
CDU: "Das ist Aufgabe des Staates"
Eine Übernahme dieser Ausgaben aus Steuermitteln müsse das Ziel sein und müsse "relativ zügig" kommen, sagte auch die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Simone Borchardt (CDU), im Gespräch mit ZDF frontal.
Es ist nicht Aufgabe der GKV-Versicherten, die versicherungsfremden Leistungen zu refinanzieren, das ist Aufgabe des Staates.
„
Simone Borchardt, gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag
Gleichzeitig fordert sie Reformen im Gesundheitssystem, um es "effektiver" zu machen: mehr ambulante Behandlungen in Kliniken, mehr Digitalisierung und eine bessere Patientensteuerung - etwa durch das Primärarztmodell.
Braucht Deutschland ein verbindliches Primärarztsystem? Fragen an Gesundheitsökonomin Simone Borchardt, CDU, und Verena Bentele, Präsidentin Sozialverband VdK.29.04.2025 | 11:58 min
Doch ein Problem bleibt: Bis heute gibt es keine gesetzlich festgeschriebene Definition, was versicherungsfremde Leistungen konkret sind. Das Gutachten aus Leipzig definierte sie auf Basis der Fachliteratur. "Es ist eine politische Frage, warum wir bis dato noch keine saubere juristische Definition von versicherungsfremden Leistungen haben", sagt Gesundheitsökonom und Geschäftsführer des Instituts WIG2, Dennis Häckl.
Bei einer schwammigen Definition fällt es vielleicht auch leichter, Ausgaben zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verschieben, als wenn wir eine eindeutige Definition hätten.
„
Dennis Häckl, Geschäftsführer des Instituts WIG2
Klage notfalls bis zum Bundessozialgericht
Ohne rechtssichere Definition wird es eine vollständige Übernahme der versicherungsfremden Leistungen durch Steuermittel also kaum geben. Und ebenso wie ihre Vorgängerregierungen macht auch Schwarz-Rot keine Anzeichen, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.
"Es ist für niemanden in der Bevölkerung, außer für die Betroffenen selbst natürlich, nachvollziehbar, dass Beamte, Abgeordnete, Privatversicherte, teilweise extrem wohlhabende Leute nicht an diesem System teilnehmen und auch nichts einbringen", kritisiert Armin Haberkorn. Er will mit seiner Klage notfalls bis vors Bundessozialgericht ziehen.
Die Menschen in Deutschland müssen oft monatelang auf einen Arzttermin warten. Patientensteuerung soll der Lösungsweg sein: erster Ansprechpartner soll die Hausarztpraxis sein.27.05.2025 | 1:43 min
Die IKK Südwest wollte das laufende Verfahren nicht kommentieren. Dabei könnte von einem Urteil in Haberkorns Sinne auch die Kasse profitieren: Eine rechtssichere Abgrenzung der Behandlungskosten von versicherungsfremden Leistungen könnte sie von Milliardenausgaben entlasten und wäre somit auch im Interesse der Versicherten.
Zum Jahreswechsel sind die Beiträge der meisten gesetzlichen Krankenkassen gestiegen. Ein Wechsel ist möglich, aber nicht immer sinnvoll. Worauf sollte man achten?