Zweiter Weltkrieg: Warum Polen den 8. Mai nicht feiert

Interview

80 Jahre Kriegsende:Warum Polen den 8. Mai nicht feiert

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Am 8. Mai 1945 endete zwar die deutsche Besatzung Polens, aber begann die neue sowjetische. Historiker Klaus Bachmann erklärt das Kriegsende aus der Perspektive von Warschau.

Eine Frau spaziert vor dem ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in Oswiecim, Polen, einen Tag vor dem 80. Jahrestag seiner Befreiung.
In das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in Oswiecim (Polen) waren 1,3 Millionen Menschen verschleppt worden. 1,1 Millionen von ihnen wurden getötet.
Quelle: dpa

Jeder, der Warschau besucht hat, dürfte bemerkt haben, dass die Erinnerung hier an den Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig ist. Denkmäler, Gedenktafeln, Wandgemälde - den Polen ist ihre Geschichte sehr wichtig. Unter der deutschen Nazi-Besatzung hat das Land sechs Millionen Landsleute verloren. Aber der 8. Mai 1945 wird in Warschau nicht gefeiert. Der Historiker Klaus Bachmann, der seit mehreren Jahren in Polen lebt, erklärt warum.
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ZDFheute: Wie blicken die Polen auf den 8. Mai, das Ende des Zweiten Weltkriegs?
Klaus Bachmann: Für die meisten ist das der Zeitpunkt, an dem zwar offiziell der Krieg zu Ende war, aber an dem in Polen und den im Osten angrenzenden belarussischen und ukrainischen Gebieten immer noch gekämpft wurde - zwischen antikommunistischen Partisanen und der Roten Armee und solchen Partisanen und Einheiten, die von den polnischen Kommunisten aufgestellt worden waren.
ZDFheute: Warum wird der 8. Mai nicht so gefeiert - wie im Westen?

Das Datum wird auch mit dem Beginn der kommunistischen Herrschaft assoziiert.

Klaus Bachmann, Historiker und Politologe

Prof. Klaus Bachmann ist Historiker und Politikwissenschaftler, Autor zahlreicher Bücher und Publikationen. Er lehrt an der SWPS Universität in Warschau.

Bachmann: Formal wurde die Volksrepublik erst 1952 gegründet. Man darf auch nicht vergessen, dass Polen damals seine Ostgebiete an die UdSSR verloren hat und dafür mit den deutschen Ostgebieten entschädigt wurde, worauf Millionen Menschen - Polen, aber auch Ukrainer und andere ethnische Minderheiten - flohen und umgesiedelt wurden. Alles zusammen macht den 8. Mai nicht zu einem Feiertag, sondern eher zu einem Trauertag, an dem Polen nach Westen verschoben wurde und unter sowjetische Herrschaft kam.
Montage: Rechts Joseph Stalin; links ein Foto einer Parade der Roten Armee in Harkov, zusammen mit der Flagge der Sowjetunion mit Textur einer Wand.
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ZDFheute: Wie stark ist der Zweite Weltkrieg an sich im kollektiven Bewusstsein verankert in Polen - im Vergleich zu Deutschland?
Bachmann: In Deutschland denkt man hauptsächlich an den Kriegsbeginn 1939, an den Überfall auf die Sowjetunion zwei Jahre später und an das Kriegsende. In Polen denkt man bei 1939 an den Ribbentrop-Molotow-Pakt, und bei 1945 an das Ende der deutschen und den Beginn der sowjetischen Besatzung, obwohl die in Ostpolen ja schon 1939 begann.
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ZDFheute: Welche Daten sind den Polen wichtiger und warum?

Wichtig sind in Polen noch 1943, der Aufstand im Warschauer Ghetto und 1944, der Warschauer Aufstand.

Klaus Bachmann, Historiker und Politologe

Bachmann: Der Warschauer Aufstand ist mit der Zeit zu einer Art nationalem Mythos geworden, also etwas, womit sich auch Menschen identifizieren, die mit Warschau nichts zu tun hatten und haben und eigentlich ganz andere persönliche Erinnerungen haben, zum Beispiel an ihre Vertreibung nach Westen, an die sowjetische Besatzung im Osten oder an ihre Deportation 1940 ins Innere der Sowjetunion.
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ZDFheute: Inwieweit belastet der Zweite Weltkrieg das Verhältnis bis heute?
Bachmann: Hauptsächlich deshalb, weil viele Polen zu Recht davon überzeugt sind, dass "die Deutschen" sehr wenig über die deutsche Besatzung, die Verbrechen an Polen und den Warschauer Aufstand wissen und zugleich - zu Unrecht - glauben, dass das bilaterale Verhältnis viel besser wäre, wenn die Deutschen darüber mehr wüssten.
Das liegt auch daran, dass bei fast jeder politischen Debatte in Polen früher oder später einzelne Ereignisse oder Interpretation der Vergangenheit aus dem Hut gezaubert werden, um damit die eigenen Argumente zu stützen.
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Zdfheute: 80 Jahre danach will Deutschland wieder aufrüsten - wie wird das in Polen bewertet? Sorgt man sich wegen eines wieder erstarkenden Deutschlands?
Bachmann: Die meisten Politiker der im Parlament vertretenen Parteien sind sich darüber klar, dass eine Bundesrepublik mit einer funktionierenden und modernen Bundeswehr die NATO stärkt und Russland besser abschreckt als eine kaputtgesparte ohne Personal.
Das hindert die Kandidaten der PiS oder die Konföderation (im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf) nicht, trotzdem ihre Stammwähler mit anti-deutschen Kampagnen zu mobilisieren, denn sie wissen ja, dass es dafür aus Deutschland so gut wie nie eine Retourkutsche gibt, weil das in Deutschland kaum jemand wahrnimmt. Diese anti-deutschen Kampagnen sind reine polnische Innenpolitik, mit Deutschland haben sie nichts zu tun.
Das Interview führte Natalie Steger, Leiterin des ZDF-Studios Warschau.

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