Iran unter Beschuss: Wie weit war Teherans Atomprogramm wirklich?

Teheran unter Beschuss:Wie weit war Irans Atomprogramm wirklich?

ZDFheute Update - Jan Schneider
von Jan Schneider
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Israel hat den Iran angegriffen, um eine nukleare Bedrohung abzuwenden. Wie konkret war die Gefahr und kann ein Luftschlag ein Atomprogramm wirklich stoppen?

Der israelische Präsident Benjamin Netanjahu vor einer Explosion.
Nach Israels Angriff reagiert Iran mit Drohnenangriffen. Droht eine weitere Eskalation? ZDFheute live ordnet die aktuellen Ereignisse mit Militärexperte Fabian Hinz ein. 13.06.2025 | 30:11 min
In der Nacht zu Freitag hat Israel einen bislang beispiellosen Angriff auf mehrere Ziele im Iran ausgeführt - darunter auch die Atomanlage Natans und militärische Einrichtungen in Teheran.
Die israelische Regierung begründet den Schritt mit einem alarmierenden Befund: Der Iran stehe kurz davor, eine atomwaffenfähige Infrastruktur zu vollenden - ein "Point of No Return", wie es in der Erklärung des israelischen Militärs hieß.
Geheimdienstinformationen sollen nahelegen, dass Teheran heimlich die letzten Schritte zur Herstellung einer Bombe vollzieht. Ein solcher Punkt markiere, so die Logik Israels, nicht nur eine technische Schwelle - sondern eine existentielle Bedrohung. Für Israel, für die Region, für die Weltordnung. Doch wie konkret war oder ist diese Gefahr wirklich?

War der Iran an einem "Point of No Return"?

Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München betont die Unterscheidung zwischen technischer Fähigkeit und politischer Absicht. Zwar habe die iranische Führung offengelassen, ob sie eine Atombombe bauen wolle, technisch aber sei der Iran heute in der Lage, genügend hoch angereichertes Uran für bis zu zehn Atombomben bereitzustellen: etwa 400 Kilogramm mit einem Anreicherungsgrad von 60 Prozent.
Die technische Hürde von 60 auf 90 Prozent sei dabei "eine Frage von wenigen Tagen". Doch das sei "noch lange keine einsatzfähige Bombe", so Busse. Es fehle weiterhin ein funktionsfähiger Sprengkopf und ein geeignetes Trägersystem. Experten gehen davon aus, dass Teheran mindestens ein bis zwei Jahre von einer einsatzfähigen Atomwaffe entfernt war - selbst unter der Annahme, dass politisch eine Entscheidung zum Bau bereits gefallen wäre.

Montage: Rechts die Flagge des Iran, links ein Kraftwerk im Iran, darauf das Zeichen für Atomkraft/Radioaktivität.
15.03.2023 | 44:05 min
Die Anreicherung von Uran ist seit Jahren der zentrale Streitpunkt im Atomkonflikt mit dem Iran. Angereichertes Uran kann zivil, aber auch zum Bau von Atombomben genutzt werden.

Ausschlaggebend ist der Grad des spaltbaren Isotops U235. Natürliches Uran hat einen U235-Gehalt von 0,7 Prozent.
  • Eine Anreicherung auf 3,5 bis 5 Prozent ist zur Gewinnung von Atomenergie notwendig.
  • Ein Grad von 20 Prozent reicht für medizinische Zwecke.
  • Für den Bau einer Atombombe ist ein Anreicherungsgrad von 90 Prozent erforderlich.

Ende Mai wurde ein Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) öffentlich, wonach Teheran seinen Bestand von auf 60 Prozent angereichertem Uran in den vergangenen drei Monaten stark erhöht habe. Westliche Staaten werfen dem Iran seit Jahren vor, an Atomwaffen zu bauen. Teheran bestreitet die Vorwürfe.

Quellen: AFP, AP

Azadeh Zamirirad von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält die israelische Einschätzung für eine spezifisch politische Lesart. "Dass ein 'Point of No Return' kurz bevor stand, ist vor allem die offizielle Einschätzung der israelischen Regierung", sagt sie. Andere Akteure - etwa US-Geheimdienste - sähen den Stand des iranischen Atomprogramms weitaus weniger dramatisch.
Montage: Die Flagge des Iran auf einer Wand, rechts dazu das Zeichen für Radioaktivität. Als Schatten auf der Wand mehrere militärische Raketen.
Eine Frage, die die Welt umtreibt: Haben iranische Fundamentalisten die Hand an der Bombe? Trotz massiver Sanktionen bauten sie über Jahrzehnte hinweg eine eigene Atomindustrie auf.15.03.2023 | 44:40 min
Kritischer schätzt Ulrich Schlie vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bonn die Lage ein: Man wisse schon seit gut einem Jahr, wie weit das iranische Atomprogramm fortgeschritten ist und was die Iraner mit ihrer Urananreicherungsanlage in Natan bezwecken. Wenn Iran Uran auf militärisches Niveau anreichern kann, sei es aus seiner Sicht nur noch eine Frage der Zeit, dass Iran über Atomwaffen verfügt.

Wir wissen auch, dass Iran alles daran setzt, alle für den Bau einer Atomwaffe notwendigen Bestandteile zu entwickeln.

Ulrich Schlie, Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS)

Insofern sei der jetzige Zeitpunkt für den Angriff aus israelischer Sicht völlig plausibel gewählt, so Schlie.

Was kann so ein Angriff erreichen - und was nicht?

Die israelischen Angriffe waren schon seit ein paar Tagen erwartet worden und mehrere Fachleute haben vor diesem Schritt gewarnt: Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, warnte im israelischen Fernsehen davor, dass ein Angriff auch nach hinten losgehen könnte. Die iranischen Atomanlagen seien extrem gut geschützt und es würde eine "sehr, sehr zerstörerische Kraft erfordern, um sie zu beschädigen". Ein solcher Angriff könnte aus seiner Sicht die Entschlossenheit des Irans, nach einer Atomwaffe zu streben, weiter festigen.
Karte auf der Jerusalem und Irans Hauptstadt Teheran markiert ist.
Quelle: ZDF

Ähnlich sieht es auch Expertin Zamirirad. Anders als bei früheren Präventivschlägen im Irak oder in Syrien sei das iranische Programm über Jahrzehnte gewachsen und über das ganze Land verteilt. Einige Anlagen liegen bis zu 90 Meter unter der Erde - zu tief für konventionelle Bomben. Nur die USA verfügen über sogenannte Bunkerbrecher, die sich bis zu 60 Meter eingraben und gezielt in dieser Tiefe explodieren können. Selbst groß angelegte Militäraktionen könnten das Programm "allenfalls verzögern, nicht stoppen".
Bisher wurden keine Angriffe auf die tiefstgelegenen Atomanlagen in den Bergen gemeldet. Zwar wurden wichtige Wissenschaftler und Militärs getötet, doch Infrastruktur lässt sich relativ schnell wiederaufbauen. Das technische Know-how lässt sich nicht auslöschen. Auch Busse warnt:

Militärschläge können Aktivitäten verzögern, aber nicht aufhalten.

Jan Busse, Universität der Bundeswehr München

Eine langfristige Lösung müsse politisch sein - in Form eines neuen Abkommens, nicht durch militärische Zerstörung.
Gaa in Instanbul
Israel hat einen Präventivschlag auf den Iran gestartet. Welches Ausmaß der Angriff hat und welche Folgen zu erwarten sind, berichtet ZDF-Korrespondentin Phoebe Gaa.13.06.2025 | 2:30 min

Droht jetzt eine größere Eskalation?

Der Angriff kommt zu einem Zeitpunkt höchster Instabilität. Zamirirad warnt vor einer "größeren militärischen Eskalation", die die USA schnell involvieren könnte - nicht nur diplomatisch, sondern auch militärisch. Tatsächlich helfen die Vereinigten Staaten Israel bereits bei der Abwehr iranischer Gegenschläge. Die Dynamik könnte sich in den nächsten Tagen dramatisch verändern.
Busse spricht von einer "extrem labilen Unsicherheitsordnung" im Nahen Osten. Es sei entscheidend, wie sich Washington nun verhält. Die USA sollten nun unbedingt deeskalierend auf Israel einwirken, so Busse.
US-Präsident Donald Trump hofft, dass der Iran nach den israelischen Angriffen an den Verhandlungstisch zurückkehrt, sagte er dem US-Sender Fox news.

Die Trump-Administration hat bislang auf eine diplomatische Lösung für den Atomkonflikt mit Iran gesetzt. Wenn Teheran jetzt aber US-amerikanische Ziele in Vergeltungsschläge einbeziehen sollte, dürfte sich die Kalkulation in Washington schnell ändern.

Azadeh Zamirirad, Stiftung Wissenschaft und Politik

Zugleich versucht Israels Premierminister Netanjahu offenbar, ein neues Atomabkommen zwischen den USA und dem Iran gezielt zu torpedieren. Eine diplomatische Lösung würde aus seiner Sicht Irans internationale Rehabilitierung vorantreiben - und so Israels Sicherheit in der Region gefährden. Diese diplomatischen Bemühungen könnte Israels Angriff nun zunichte gemacht haben.
Zudem könnte die sogenannte "Achse des Widerstands" - also Irans Netzwerk aus Stellvertretermilizen wie Hisbollah, Huthis oder islamistischen Gruppen im Irak - aktiviert werden. Das würde den Konflikt von einem punktuellen Luftschlag in eine regionale Krise überführen. Bislang halten die sich mit schnellen Reaktionen aber zurück. Eine erste Stellungnahme der libanesischen Hisbollah bekundete lediglich "Solidarität" mit dem Iran. Die libanesische Regierung wirkte lokalen Medienberichten zufolge auch auf die Miliz ein, sich vorerst nicht an Gegenschlägen zu beteiligen. 
Reichart in Tel Aviv
Nach dem Angriff Israels auf den Iran, hat Iran einen Gegenangriff gestartet. Über die aktuelle Lage in Tel Aviv berichtet ZDF-Korrespondent Thomas Reichart.13.06.2025 | 2:09 min
Die proiranischen Milizen im Irak verhielten sich während des bisherigen Gaza-Kriegs zurückhaltend und unterstützten Irans Interessen meist nur mit symbolischen Aktionen. Sollten sie sich auch aus dem nun erwarteten Gegenschlag heraushalten, dürfte das als Beleg gewertet werden, dass das von Iran über viele Jahre und für viele Milliarden Dollar aufgebaute Netzwerk an Gruppen in der Region weit weniger zuverlässig und schlagfertig ist, als gemeinhin angenommen und in ihrer Propaganda dargestellt. Für die Islamische Republik Iran wäre das ein doppelter Gesichtsverlust.