20 Jahre Haft für Arzt:Was folgt aus Missbrauchsprozess in Frankreich?
von Luis Jachmann
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In der Bretagne wurde ein Chirurg verurteilt, der über Jahrzehnte hunderte Kinder vergewaltigt hat - französische Institutionen stoppten ihn nicht. Fragen bleiben ungeklärt.
Ein Chirurg wurde in Vannes wegen jahrelanger sexualisierter Gewalt an hunderten Jugendlichen und Kindern verurteilt. Die Opfer waren im Durchschnitt 11 Jahre alt.28.05.2025 | 1:37 min
20 Jahre Haft für hunderte Sexualverbrechen: Wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen hat der ehemalige Arzt Joel Le Scouarnec in Frankreich die Höchststrafe bekommen. Allerdings ohne anschließende Sicherungsverwahrung.
Schon im Vorfeld hatte es an der Schuld des langjährigen Chirurgen keine Zweifel gegeben. Im März hatte Le Scouarnec vor Gericht selbst eingeräumt, dass alle Vorwürfe gegen ihn stimmen: In Operationssälen und Krankenzimmer ist er in 299 Fällen sexuell übergriffig geworden, hat seine Patientinnen und Patienten mitunter zu Penetrationen gezwungen. Viele waren zum Tatzeitpunkt minderjährig, im Schnitt elf Jahre alt. Die Ermittlerinnen und Ermittler gehen noch immer von einer hohen Dunkelziffer aus.
In der französischen Bretagne wurde ein ehemaliger Chirurg verurteilt. Der heute 74-Jährige missbrauchte 299 Minderjährige, meist im Krankenhaus.11.03.2025 | 2:16 min
Le Scouarnec sagte im Prozess, er sei sich des "ungeheuren Leids" bewusst, dass er seinen Opfern und den Angehörigen zugefügt habe. Viele Opfer nehmen dem 74-Jährigen die vorgetragene Reue aber nicht ab, zumal er immer wieder betont hatte, an seinen Verbrechen Gefallen gefunden zu haben.
Vier Monate lang hatten sich im Gerichtssaal im bretonischen Vannes neue Abgründe aufgetan. Le Scouarnec gestand, auch seine Enkelin vergewaltigt zu haben - und für den Suizid zweier Kinder verantwortlich zu sein, die er im Krankenhaus missbraucht hatte.
Fall erschüttert Vertrauen ins Gesundheitssystem
Der Prozess von Vannes hat systemisches Versagen aufgedeckt. Das Vertrauen in die Institutionen des Gesundheitswesens ist merklich erschüttert. Wie konnte ein pädokrimineller Arzt zwischen 1986 und 2014 ungehindert in mehreren Krankenhäusern in Westfrankreich seine Verbrechen begehen? Opferverbände mahnen eine Kultur des konsequenten Vertuschens an:
Sogar im Gesundheitsministerium hat man gewusst, dass Le Scouarnec vorbestraft war. Was wir bis heute nicht wissen, ist, wer alles Bescheid wusste.
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Arnaud Gallais, Opferverein "Mouv'Enfants"
Denn bereits 2005 wurde der Arzt wegen Besitzes kinderpornographischer Inhalte auf Bewährung verurteilt. Und sogar ein Psychiater warnte die Ärztekammer. Doch weder diese Kontrollstelle noch der damalige Arbeitgeber, das Krankenhaus der Gemeinde Quimperlé, zogen Le Scouarnec aus dem Verkehr. Der Chirurg praktizierte viele Jahre weiter.
Im Vergewaltigungsprozess von Avignon wurde die 72-jährige Gisele Pelicot zur feministischen Ikone. Sie kämpfte dafür, dass die Scham auf die Seite der Täter wechselt.19.12.2024 | 1:52 min
Vor Gericht räumte die Ärztekammer "Versagen" ein. Eine ZDF-Interviewanfrage, um über mögliche Konsequenzen zu sprechen, lehnte die Ärztezulassungsstelle ab.
Opfer fordert höhere Strafen
Viele Opfer erwarten von französischen Institutionen, Lehren aus dem Fall zu ziehen. Gabriel Trouvé wurde als Kind von Le Scouarnec im Krankenhaus missbraucht. Er fordert längere Haftstrafen für Serientäter. Bei einer Protestaktion vor dem Gerichtsgebäude richtet er sich mit einem Appell an die Öffentlichkeit:
Der Prozess hat schonungslos das systemische Versagen offen gelegt. Jetzt braucht es echte Präventionsmaßnahmen.
Intensive Debatten sind im politischen Paris aber bisher ausgeblieben. Dabei wirkt der Prozess wie ein Weckruf für Politik, Gesellschaft und Justiz, genauer hinzuschauen und Verdachtsfällen gezielter nachzugehen. Opfervereine in Frankreich kritisieren, dass die Ermittlungen bei rund 70 Prozent aller Anzeigen von sexualisierter Gewalt an Minderjährigen schnell eingestellt werden.
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch ist Angebot für betroffene Kinder und Jugendliche und ihr Umfeld. Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauches, stellt es vor.02.05.2024 | 5:15 min
Nachbarin brachte Missbrauchsermittlungen ins Rollen
Im Fall Le Scouarnec kam das ganze Ausmaß erst 2017 ans Licht, als eine Nachbarin Anzeige wegen Missbrauchs an ihrer Tochter stellte. Die Ermittlerinnen und Ermittler fanden bei dem Arzt 30.000 Bilder und Videos mit Missbrauchsdarstellungen von Kindern sowie Tagebücher, in denen er seine Verbrechen akribisch festhielt.
Le Scouarnec sitzt bereits seit 2020 wegen sexuellen Missbrauchs in vier anderen Fällen in Haft - darunter an zwei seiner Nichten. Und die französische Justiz bereitet schon neue Verfahren vor - gegen Le Scouarnec, in weiteren Fällen, und gegen die Ärztekammer.