Protestbrief wegen Berechnung:Statistiker bringen Armutsforscher in Aufruhr
Armutsforscher werfen dem Statistischen Bundesamt "Willkür" vor. Die Statistiker sehen sich zu Unrecht verunglimpft - und haben einen Streit über Berechnungsmethoden ausgelöst.
Das Statistische Bundesamt steht in der Kritik.
Quelle: dpaEin offener Protestbrief von 30 Armutsforscherinnen- und -forschern an die Präsidentin des Statistischen Bundesamts hat hohe Wellen geschlagen. Der Kernvorwurf: Das Amt wolle die Armutsstatistik schönen - mehr als eine Million armutsgefährdete Menschen in Deutschland seien "mal eben" aus der Statistik verschwunden.
Der Hintergrund des Aufruhrs: Im öffentlich zugänglichen Portal des Statistischen Bundesamts ist seit Juli nur noch das Ergebnis einer Methode für das Berechnen der Armutsgefährdungsquote verfügbar. Bislang hatte das Amt die Ergebnisse zweier Methoden bereitgestellt.
Der paritätische Wohlfahrtsverband hat seinen Armutsbericht veröffentlicht. Dieser zeigt besorgniserregende Entwicklungen, denn immer mehr Menschen sind armutsgefährdet.
29.04.2025 | 1:57 minMehr als 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet
Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (das "Medianeinkommen") verfügt. Insgesamt sind laut Statistischem Bundesamt circa 13,1 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet.
Nach der vom Amt nun favorisierten Berechnungsmethode mit dem Kürzel "MZ-SILC" lag die Armutsgefährdungsquote in der Bevölkerung im Jahr 2024 bei 15,5 Prozent, nach der zweiten Berechnungsmethode mit Kürzel "MZ-Kern" aber bei 16,6 Prozent.
Die unterschiedlichen Berechnungsmethoden:
... steht für das Kernprogramm des Mikrozensus, einer jährlich durchgeführten Haushaltsbefragung in Deutschland. Sie liefert grundlegende Informationen zur Bevölkerungsstruktur. Der Mikrozensus basiert auf einem festen Fragenkatalog unter anderem zu Erwerbstätigkeit, Bildung, Einkommen und Wohnsituation. Die Stichprobe umfasst ein Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland; das entspricht ca. 400.000 Haushalten.
MZ-Kern ist die größte jährliche Haushaltsbefragung Europas und ermöglichst besonders detaillierte regionale und soziodemografische Analysen.
... steht für "Mikrozensus Statistics on Income and Living Conditions" und ist eine neuere Erhebungsmethode. Sie bietet eine wesentlich kleinere Stichprobe als MZ-Kern, aber mehr Detailtiefe bei der Erfassung von Einkommensarten. Sie umfasst rund 100.000 Haushalte.
... steht für "European Union Statistics on Income and Living Conditions"und ist eine europaweit harmonisierte Erhebung zu Einkommen, Lebensbedingungen, Armut und sozialer Ausgrenzung. Sie liefert sowohl Querschnittsdaten (Momentaufnahme) als auch Längsschnittdaten (Veränderungen über Zeit).
Seit 2020 ist EU-SILC in Deutschland als Unterstichprobe im Mikrozensus (MZ-SILC) integriert, was eine größere Stichprobe und bessere Repräsentativität ermöglicht.
Die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt, warnt davor, dass Pflegekosten zur Armutsfalle werden können.
03.08.2025 | 0:30 minBundesamt weist Vorwurf "behördlicher Willkür" zurück
Die Armutsforscher fordern, dass die Ergebnisse der beiden Berechnungsmethoden künftig wieder im Amtsportal für die Öffentlichkeit einsehbar sind. Es grenze "an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichem und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?"
Das Statistische Bundesamt weist den Vorwurf von "behördlicher Willkür" und Manipulation "entschieden zurück". In einem ausführlichen Schreiben begründete das Amt schon im Juli seine fachlichen Gründe für die Umstellung.
Ein Sprecher konkretisiert auf ZDFheute-Nachfrage, dass die EU-SILC-Methode aus Sicht der Statistiker "sehr viel differenzierter" sei als die MZ-SILC-Methode und somit auch "qualitativ bessere Ergebnisse" liefere.
Familienbericht: Die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland ist gestiegen. Besonders armutsgefährdet sind alleinerziehende Frauen.
15.01.2025 | 2:29 minForscher Butterwegge: Armut gestiegen, nicht gesunken
Dem widerspricht der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, prominenter Unterzeichner des Protestbriefs, im Gespräch mit ZDFheute. Die eine Methode sei der anderen nicht per se überlegen. Im Gegenteil:
Das Problem besteht darin, dass die Armutsrisikoquote durch die neue Berechnungsmethode auf dem Papier zurückgegangen ist, in der Realität aber das Gegenteil zutrifft.
Christoph Butterwegge, Sozialforscher an der Universität Köln
Die Armut in Deutschland sei in den vergangenen fünf Jahren durch Corona, den Krieg in der Ukraine und die Folgen mit hoher Inflation und weiterer Faktoren gestiegen, nicht gesunken.
ZDFheute Infografik
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Wissenschaftler begründet Manipulationsvorwurf
"Wer aber einfach auf die Seite des Statistischen Bundesamts guckt, bekommt den Eindruck: 'Ach, Armut gibt’s jetzt weniger! Die Sozialpolitik wirkt!' Das tut es aber nicht. Ganz im Gegenteil. Und dies ist hoch bedenklich", so Butterwegge.
Den Vorwurf der Manipulation begründet er so: "Ich sage nicht, dass das Statistische Bundesamt Statistiken fälscht. Aber man wechselt im laufenden Prozess zu einer Methode, die Ergebnisse produziert, die aus Sicht der Bundesregierung besser ins Bild passen.
Das halte ich für manipulativ. So wird die Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt.
Christoph Butterwegge, Sozialforscher Universität Köln
Am Leben teilnehmen, das wollen Ältere wie Jüngere. Doch dieses Leben wird immer teurer. Überproportional von Altersarmut betroffen sind Senioren mit Migrationsgeschichte.
08.01.2025 | 2:32 minButterwegge: "Regierung bekämpft die Armen"
Butterwegge sagt, die Statistik werde so zum Politikum: "Die Bundesregierung bekämpft die Armen und nicht die Armut. Gleichzeitig behindert das Statistische Bundesamt die Armutsforschung."
Dem widerspricht ein Sprecher der Statistikbehörde vehement:
Den Vorwurf, wir lenkten Ergebnisse in eine bestimmte Richtung, betrachten wir als hochgradig unangemessen.
Sprecher des Statistischen Bundesamts
Zudem seien die MZ-Kern-Daten für die Wissenschaftler auch weiterhin zugänglich. Deren Arbeit werde also nicht behindert.
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Berechnungsunterschiede Ergebnis von Messfehlern?
In einem aktuellen Beitrag zur Debatte, herausgegeben vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, unterstützen die Statistikerin Katharina Schüller, der RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer und der ehemalige Präsident des Statistischen Bundesamts, Walter J. Radermacher, die Sichtweise der Behörde.
Auf den Vorwurf, dass durch das Vorgehen des Statistischen Bundesamts quasi über Nacht eine Million armutsgefährdeter Menschen auf dem Papier verschwunden seien, entgegnen sie:
Sie haben höchstwahrscheinlich niemals existiert, sondern waren das Ergebnis von Messfehlern durch die weniger präzise und systematisch verzerrte Erfassung im MZ-Kern.
Beitrag von Forschern des RWI
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Messung Armutsgefährdung seit jeher mit statistischen Unsicherheiten
Das Autorenteam betrachtet die Manipulationsvorwürfe als unbegründet, "viel Lärm um nichts". Ähnlich sieht es Maximilian Stockhausen vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), der den Fokus auf die MZ-SILC-Berechnungsmethode als "einen richtigen und überfälligen Schritt" erachtet, der für "mehr Übersicht und weniger Verwirrung" sorge.
Gleichzeitig räumt Stockhausen ein, dass die Messung der Armutsgefährdung "seit jeher mit großen statistischen Unsicherheiten behaftet" gewesen sei. Weder MZ-Kern noch MZ-SILC seien perfekt. Gewisse Unschärfen bleiben also bestehen.
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