Syrien neue, alte Wunden: Gefährdeter Machtübergang

Gefährdeter Machtübergang:Syriens neue, alte Wunden

Golineh Atai
von Golineh Atai
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Das Blutbad in Suweida hat ein fragmentiertes Land weiter auseinandergetrieben. Der Waffenstillstand ist fragil. Der Hass unter den Religionsgruppen in Syrien wächst.

Drusische Milizionäre fahren auf einem Motorrad an der Hauptstraße außerhalb von Suweida an der Stelle vorbei, an der die israelische Armee Mitte Juli einen Angriff verübt haben soll.
Die mehrheitlich von Drusen bewohnte Stadt Suweida war Mitte Juli Ziel von israelischen Angriffen.
Quelle: dpa

In ihrer Stimme ist der Schock deutlich herauszuhören. "Ich habe viele Freunde verloren. Meinen Onkel, meine Tante, Nachbarn. Unsere Stadt Suweida ist ruhig, aber angespannt. Wir erwarten eine weitere Angriffswelle gegen uns - die Beduinen-Milizen haben bereits mehr als dreißig Dörfer in ihrer Gewalt", sagt die Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Loujain Hamzah, die der drusischen Minderheit angehört.

Es gibt keine Vorräte mehr. Wir haben keinen Strom, kein Internet. Nahrungsmittel, Wasser, Treibstoff sind knapp.

Loujain Hamzah, Ärztin und Aktivistin

Es falle ihr schwer, sagt sie, die Vergehen der Angreifer zu beschreiben: die Nackenschüsse, die Vergewaltigungen, die niedergebrannten Häuser.

Regierungstruppen zertrampeln Porträt von Drusenführer

Es ist nur knappe sieben Monate her, als Machthaber Ahmad Al-Scharaa - ausgerechnet vor einem Vertreter der Drusen - für Syrien eine "neue Zeit, weit weg von religiöser Gewalt" und den Schutz religiöser Minderheiten ankündigte - gerade weil dies zur Kultur des Islam gehöre.
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Die Fakten sprechen eine andere Sprache - die eines homogenisierten Syriens, das Minderheiten ausschließt. Als Al-Scharaas Truppen Suweida betraten, zertrampelten sie ausgerechnet das Porträt des Drusenführers Sultan Basha Al-Atrash - ein Nationalsymbol der syrischen Revolte gegen die französische Kolonialherrschaft.

Drusen und Beduinen: Religiöser Hass auf beiden Seiten

Religiöser Hass taucht auch auf der Gegenseite auf, bei den Drusen-Milizen, die Zehntausende Beduinen vertrieben haben. "Nie im Leben hatte ich so etwas erwartet. Wir haben gesehen, wie sie unsere Häuser plünderten. Wie sie Frauen und Kindern in den Kopf schossen. Wie sie einen Beduinen an ein Auto hängten und hin- und herzogen", sagt Umm Ayan, die als Erntehelferin auf den Feldern der Drusen arbeitete und ihr Zuhause verlor.

Wir waren wie Brüder. Jetzt will ich nie wieder einen Drusen sehen.

Umm Ayan, Erntehelferin bei Drusen

Die Evakuierung von Beduinen-Familien in Bussen erinnert an die dunkelsten Stunden des Bürgerkriegs, als Sunniten massenhaft auf die gleiche Weise entwurzelt wurden.
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Wer setzte Eskalationsspirale in Syrien in Gang?

Die Beziehungen zwischen Beduinen-Stämmen und Drusen sind seit Jahrzehnten angespannt. Diese Gewaltwelle fing an mit der Entführung eines Gemüsebauern durch Beduinen und Vergeltungsrunden. Dann schickte Damaskus Truppen - offenbar in der falschen Annahme, dass Israel, das Teile Süd-Syriens besetzt, eine temporäre Intervention nun erlaube.
Wer die Eskalationsspirale wie in Gang setzte, ist nur schwer zu rekonstruieren. Eine Version lautet: Die Drusen-Milizen hätten die Regierungstruppen hineingelassen, weil sie davon ausgingen, dass diese sich zwischen sie und die Beduinen stellen würden - doch diese hätten stattdessen mit dem Morden angefangen. Die Regierung hingegen sagt, sie habe keinen Schießbefehl auf Zivilisten gegeben - aber ihre Armee sei von den Drusen in einen Hinterhalt gelockt worden und hätte reagieren müssen.
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Wer die Gewalt nur auf den religiösen Extremismus in der sunnitischen Mehrheit im Land reduziert, oder darin einen Kampf "Gut gegen Böse" sieht, ignoriert die Komplexität Syriens: die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die Rolle der Online-Desinformation, die gezielt Hass schürt, oder die Tatsache, dass in der Drusen-Miliz viele ehemalige Assad-Offiziere sind. Eines der psychologischen Grundprobleme Syriens, so ein westlicher Diplomat: dass die Gruppen sich auseinanderentwickelten im Krieg - und von Diktator Assad gegeneinander ausgespielt wurden.
Die Sunniten fühlen sich oft als alleinige Opfer der Assad-Herrschaft. Doch auch die Minderheiten haben gelitten - zugleich waren unter ihnen auch Komplizen Assads. Aus dem Nordwesten zurückkehrende Flüchtlinge nehmen wahr, dass ihre Häuser und Gebiete zerstört wurden - daneben aber die Gebiete der Christen und Drusen unbeschadet blieben. Minderheiten wie die Drusen oder Kurden gewannen viel Autonomie unter Assad - ob durch den Schmuggel oder durch die Ölquellen in ihren Gebieten. Diese Autonomie abzugeben und sich plötzlich als Staatsbürger zu begreifen kann nicht über Nacht geschehen.
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Doch die Tatsache, dass die Drusenmiliz Assad-Offiziere umfasst oder dass diese mit Israel zusammengearbeitet hat, ändert nichts an der Tatsache, dass Regierungskräfte Massaker gegen drusische Zivilisten verübt haben. Diese werden von den Drusen als extremistischer Angriff auf die gesamte drusische Gemeinschaft verstanden.

Die Fehler Syriens Regierung

"Ich sehe keine systematische Kampagne der Regierung gegen Minderheiten", ist der langjährige Syrien-Forscher Gregory Waters von der Washingtoner Denkfabrik Middle East Institute überzeugt. "Die Regierung arbeitete bislang auf lokaler Ebene sehr gut mit Anführern der Ismaeliten oder Alawiten zusammen. Dass es religiöse Gewalt gibt, ist unbestritten. Sie existiert in allen Gruppen."

Der Hauptfehler der Regierung ist, dass sie lokale Milizen zu schnell in den Staat integrierte, ohne sie zu kontrollieren - ohne diese Kräfte zu professionalisieren.

Gregory Waters, Middle East Institute

Syriens Verteidigungsministerium spricht von "schockierenden und brutalen Verbrechen" einer "unbekannten Gruppe in Militäruniformen, aber ohne offizielle Zugehörigkeit" in Suweida und verspricht Aufklärung. Doch in Syrien ist alles zurück auf Null - und der Machtübergang so gefährdet wie nie zuvor.

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