Instabile Alpen: Bergsturz in der Schweiz wird zur ernsten Gefahr

Schweizer Alpendorf:Kandersteg rüstet sich für Bergsturz-Gefahr

von Laura Ozdoba
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Im Alpenraum kommt es immer häufiger zu Felsstürzen. In Kandersteg leben die Anwohner seit Jahren mit der Gefahr, vertrauen auf Frühwarnsysteme. Doch was passiert im Worst Case?

Das Schweizer Dorf Blatten, nachdem es durch einen Bergsturz unter Massen von Eis, Schlamm und Felsen begraben wurde.

Ende Mai wird das Schweizer Dorf Blatten unter einem riesigen Bergsturz begraben. Kein Einzelfall: Der Klimawandel lässt die Alpen bröckeln. Wie gehen die Menschen damit um?

04.09.2025 | 43:28 min

Mächtige Berge, ein traumhaft blauer See, grüne Täler und mittendrin ein malerisches Dorf: Das Alpenpanorama rund um das Bergdorf Kandersteg erscheint perfekt. Ein echter Sehnsuchtsort, wie ihn zahllose Reiseführer und Influencer bewerben.

Doch die Idylle ist trügerisch: Kandersteg ist in Gefahr - Millionen Kubikmeter Fels und Geröll drohen herabzustürzen. Denn die Bergflanke am nahe gelegenen "Spitzen Stein" ist instabil. Seit einigen Jahren ist der Berg in Bewegung, im Sommer sackt Gestein bis zu 50 Zentimeter am Tag, wie Messungen zeigen. Und immer wieder bricht Gestein ab und donnert in Richtung Tal. In Richtung Kandersteg.

Grafik Kandersteg, Bondo und Blatten

Die Berge im Alpenraum werden immer instabiler. Nach den großen Bergstürzen von Bondo (2017) und Blatten (2025) droht in Kandersteg eine noch größere Katastrophe.


Größerer Bergsturz als in Blatten droht

Die Situation erinnert an den großen Bergsturz in Blatten im Mai 2025, als gewaltige Geröllmassen das Dorf unter sich begruben.

Bis Kandersteg sind es Luftlinie gerade einmal zehn Kilometer. Doch hier droht im schlimmsten Fall ein noch viel größerer Bergsturz. Etwa 16 Millionen Kubikmeter Gestein könnten abbrechen und sich einen Weg bis ins Tal bahnen - in Form von sogenannten Murgängen. Permafrost-Forscherin Dr. Marcia Phillips erklärt, dass man noch nicht genau wisse, was passieren wird.

Es könnte paketweise runterkommen, aber es könnte auch zu einem sehr großen Ereignis führen in Kandersteg.

Marcia Phillips




Ein Bergsturz am Spitzen Stein könnte eine Lawine aus Schlamm und Geröll auslösen, die als sogenannter "Murgang" mit hoher Geschwindigkeit ins Tal donnert.

Ein Bergsturz am Spitzen Stein könnte eine Lawine aus Schlamm und Geröll auslösen, die als sogenannter "Murgang" mit hoher Geschwindigkeit ins Tal donnert.


Zahl der Bergstürze nimmt zu

Fels- und Bergstürze sind per se nichts Ungewöhnliches im Alpenraum. Vielmehr handele es sich um ein "ganz normales Phänomen", wie der Geologe Professor Michael Krautblatter von der TU München gegenüber ZDFheute erklärt.

Das nach dem Bergsturz verschüttete Dorf Blatten.

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Doch ihre Häufigkeit hat in den letzten Jahrzehnten immer weiter zugenommen: "Wir sehen seit 15 Jahren, dass ab 3.000 Metern deutlich mehr und häufigere Felsstürze auftreten."

Es sind inzwischen wirklich Hunderte.

Michael Krautblatter, Geologe an der TU München

Schmelzender Permafrost sorgt für Instabilität

Ab dieser Höhe, so der Wissenschaftler, beginnt der sogenannte Permafrost. Dabei handelt es sich um Eis, das wie eine Versiegelung der Berge wirkt. "Wir haben ja oft Risse im Fels oder Poren, die mit Eis gefüllt sind", erklärt die Permafrost-Forscherin Dr. Marcia Phillips. "Und dieses Eis wirkt wie ein Stöpsel und verhindert, dass da Wasser in den Berg hineinkommen kann."

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Schmelze das Eis, habe man einen höheren Druckaufbau, aber auch schnelle Temperaturänderungen. Das könne zu Felsstürzen führen, erklärt Phillips. In vielen Hochgebirgszonen ist die Temperatur des Permafrostes seit 1980 um über drei Grad gestiegen. Das belegen Daten der WSL, einer Forschungsanstalt der ETH Zürich. Die Auswirkungen auf die Stabilität der Alpen sind gravierend: Bis 2050 könnte sich die Anzahl instabiler Bergflanken verdoppeln.

Moderne Frühwarnsysteme sollen die Bevölkerung schützen

In Kandersteg sind sich die Menschen des Bergsturz-Risikos bewusst. Seit Jahren investieren sie dort in Schutzmaßnahmen - mehrere Millionen Franken sind bereits für Dämme, Betonsperren oder Murgangnetze geflossen. Außerdem werden der Spitze Stein und seine Umgebung umfassend überwacht.

Das von einem Bergsturz verschüttete Dorf Blatten.

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In Echtzeit messen sie die kleinsten Bewegungen am Berg, ermitteln, wo Abbrüche drohen und wo Fels und Gestein instabil sind. Ganz exakte Prognosen sind jedoch unmöglich.

Auf ihrer Webseite informiert die Gemeinde die Öffentlichkeit über die aktuelle Gefahrenlage. Für den Ernstfall gibt es Evakuierungspläne - und eine Karte, die das Dorf in Gefährdungszonen einteilt: Rot bedeutet erhebliche Gefährdung.

Grafik: Gefährdungsgebiete um Kandersteg

Laut der Gefahrenkarte ist das Dorfzentrum von Kandersteg besonders gefährdet.


Vor mittleren bis kleineren Ereignissen seien sie geschützt, erklärt der Gemeinderatspräsident René Maeder.

Nur bei einem Worst Case, wo man vermutet, dass es noch weiter runterkommt, kann man sich nicht schützen. Unmöglich.

René Maeder, Gemeinderatspräsident von Kandersteg

Leben in den Alpen wird sich langfristig verändern

Die Anwohner kennen das Risiko und leben mit der Gefahr. "Ich habe mehr Angst, wenn ich irgendwo am Meer bin und den Boden unter den Füßen verliere", erklärt Landwirt Hans Rösti.

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Langfristig wird sich das Leben in den Alpen verändern, ist der Kulturforscher Professor Boris Previšić von der Universität Luzern überzeugt. Man müsse viel schneller und viel flexibler reagieren können. "Und das wird sicher für Gewohnheiten, vor allem auch im Tourismus oder in der Landwirtschaft, aber auch in Bezug auf Energieproduktion, wo die Alpen auch eine große Rolle spielen, eine große Veränderung in den nächsten 20 Jahren mit sich bringen."

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