Europas militärische Verteidigung: Militärchef zieht Bilanz

Interview

Europa in der Nato:General Brieger: "Mentalitätswandel begonnen"

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Die EU hat keine Armee - aber einen Militärchef. General Robert Brieger zieht nach drei Jahren im Amt Bilanz: Europa muss mehr Verantwortung für seine Verteidigung übernehmen.

NATO-Soldaten springen bei einer Übung mit Fallschirmen ab
Der Ukrainekrieg zeigt die Spannungen im westlichen Militärbündnis. Die USA verschieben die Aufmerksamkeit in den Indo-Pazifik und fordern von Europa mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit.19.06.2025 | 44:32 min
ZDFheute: Seit Trump im Amt ist, hat die Erkenntnis mit voller Wucht eingeschlagen, dass Europa mehr tun muss für die eigene Sicherheit. Ist das jetzt eigentlich eine gute Zeit für europäische Militärs?
Robert Brieger: Es ist eine gute Zeit, insofern, dass natürlich ein hoher Druck besteht, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterzuentwickeln. Das heißt, dass die Tendenz der Vereinigten Staaten, allenfalls Ressourcen aus Europa abzuziehen, eine hohe Motivation mit sich bringt, mehr zu tun und selbstbestimmte Kapazitäten zur Verfügung zu stellen.

Robert Brieger steht in Uniform an einem Pult mit der Aufschrift HU24EU und hält eine Rede.
Quelle: epa

… war von Mai 2022 bis Mai 2025 der Vorsitzende des Militärausschusses der Europäischen Union und damit der Militärchef der EU. Als Offizier des österreichischen Bundesheeres hat er den Dienstgrad eines Generals.

ZDFheute: Ist es nicht frustrierend, dass erst durch Trump 2.0 mehr Bewegung reinkommt?
Brieger: Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges haben die Europäer sehr viele Bemühungen unternommen, eigene Kapazitäten zu stärken und die Ukraine massiv zu unterstützen - militärisch, finanziell und mit weiteren Maßnahmen.

Die Europäer haben also nicht geschlafen.

Ausgaben für Verteidigung
:Warum EU-Staaten unterschiedlich investieren

Nach Außen gibt sich Europa geschlossen. Bis zu 800 Milliarden Euro sollen in die Verteidigung investiert werden. Doch in einigen Staaten regt sich Widerstand.
Johannes Lieber, Brüssel
Panzer des deutsch-französische Konzern KNDS in Bourges
ZDFheute: Aber was hat die EU militärisch konkret erreicht?
Brieger: Die EU hat Instrumente geschaffen, um gemeinsame militärische Fähigkeiten schneller aufzubauen - Produktionskapazitäten, gemeinsame Standards, Interoperabilität, Finanzinstrumente. Aber: Der Aufbau von Fähigkeiten, die nach dem Kalten Krieg jahrzehntelang vernachlässigt wurden, ist nicht von heute auf morgen möglich.
Die vier in den USA verurteilten Ost-Spione verlassen am 11.06.1985 einen amerikanischen Bus.
Es war der größte Agentenaustausch während des Kalten Krieges: 27 Spione wurden vor 40 Jahren auf der Glienicker Brücke ausgetauscht. Einer von ihnen: Eberhard Fätkenheuer.11.06.2025 | 10:12 min
ZDFheute: Wie lange dauert das und was fehlt?
Brieger: Ich würde die volle Kompensation der fehlenden Kapazitäten in etwa zehn Jahren sehen - wenn die nötigen Maßnahmen nachhaltig getroffen werden. Es gibt identifizierte Lücken bei Luft- und Drohnenabwehr, der Produktion von Artilleriemunition, im Cyber- und Weltraumbereich.

Auch bei konventioneller Kriegsführung fehlen Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme, Flugzeuge und Hubschrauber.

ZDFheute: Was würde ein schneller Rückzug der USA bedeuten?
Brieger: Die europäischen Staaten müssten etwa 250 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich investieren. Außerdem bräuchte es rund 50 zusätzliche Brigaden, um das US-Engagement halbwegs zu kompensieren. Europa hätte ohne das Engagement der USA weiterhin Schwierigkeiten, sich selbst zu verteidigen.
NATO-Verteidungsminister in drei Reihen neben- und hintereinander aufgestellt.
Die Nato-Verteidigungsminister haben in Brüssel ein großes Aufrüstungsprogramm vereinbart. Geld soll vor allem in die Luftverteidigung und in weitreichende Waffensysteme fließen.05.06.2025 | 1:43 min
ZDFheute: Wäre Europa dann schutzlos?
Brieger: Nein. Es gibt Streitkräfte in 27 Mitgliedstaaten mit einem gewissen Grad an Interoperabilität. Aber wichtige strategische und konventionelle Fähigkeiten würden fehlen - sie könnten nur mittelfristig aufgebaut werden.
ZDFheute: Ist die EU überhaupt die richtige Institution für militärische Fragen?
Brieger: Die EU wurde als wirtschaftliches Projekt geschaffen, aber die Realität hat gezeigt, dass sie auch verteidigt werden muss.

Spätestens seit dem Ukraine-Krieg hat ein Mentalitätswandel begonnen - bei Politik wie Gesellschaft.

Das Nato Logo ist an einem Schiff am vor dem Großmanöver Baltops in der Ostsee zu sehen.
Die Nato hat ihr jährliches Marinemanöver in der Ostsee gestartet. Beteiligt sind hierbei 50 Schiffe, 25 Flugzeuge und 9.000 Soldaten aus 17 Ländern.08.06.2025 | 1:30 min
ZDFheute: Wie äußert sich dieser Mentalitätswandel in der Politik?
Brieger: Es gibt beispielsweise Pläne für Darlehen von etwa 150 Milliarden Euro für Verteidigungszwecke. Auch zivile Investoren sollen eingebunden werden. 2024 stehen 326 Milliarden Euro zur Verfügung - mittelfristig soll das auf 3 bis 3,5 % des BIP steigen. Wir arbeiten daran, dass die Streitkräfte selbst definieren, welche Fähigkeiten vorrangig sind.

Es geht um gemeinsame Standards, Interoperabilität und die Schließung von Fähigkeitslücken.

ZDFheute: Gibt es echte Schritte in Richtung einer europäischen Armee?
Brieger: Eine europäische Armee ist langfristig denkbar, hängt aber vom politischen Integrationsprozess ab. Derzeit geht es vor allem darum, die Streitkräfte so zu verzahnen, dass auch umfangreichere Operationen jenseits des bisherigen Krisenmanagements möglich sind.
Archiv: Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, beantwortet die Fragen der Medienvertreterinnen und Medienvertreter nach seinem Besuch in der Führungsakademie der Bundeswehr in der Clausewitz-Kaserne am 27.10.2023, Hamburg
Die Bundeswehr braucht für die neuen Nato-Planungsziele bis zu 60.000 Soldaten zusätzlich, sagt Verteidigungsminister Pistorius. Die Truppe hat schon jetzt ein Personalproblem.05.06.2025 | 8:07 min
ZDFheute: Artikel 5 der Nato steht zur Diskussion. Was hat die EU dem entgegenzusetzen?
Brieger: Es gibt Artikel 42.7 im EU-Vertrag - eine Beistandsklausel, sogar schärfer formuliert als Artikel 5 der Nato. Aber sie muss noch operativ ausgestaltet werden, also bei welchem konkreten Anlass Unterstützung geboten ist. Der Handlungsspielraum ist da - wir müssen ihn mit Fähigkeiten und politischem Willen glaubhaft machen.
ZDFheute: Schwächen wir uns mit der Unterstützung für die Ukraine nicht selbst?
Brieger: Europa hat etwa 135 Milliarden Euro an militärischer und ziviler Hilfe geleistet - mehr als die USA. Diese Hilfe muss nachhaltig fortgeführt werden, um der Ukraine eine gute Verhandlungsposition zu verschaffen. Die Hilfe für die Ukraine liegt im ureigenen europäischen Sicherheitsinteresse - sie schützt letztlich auch uns.
Das Interview führte Isabelle Schaefers, ZDF-Korrespondentin in Brüssel.

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