Experte zu Drohnen-Vorfall: Russland testet Polen und Nato

Analyse

"Kein Zufall, sondern Provokation":Wie Experten den Drohnen-Vorfall einordnen

von Laura Marie Mertes
|

"Kein Zufall, sondern eine Provokation", sagt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik über den Drohnen-Vorfall im polnischen Luftraum. Was bedeutet das konkret?

Wladimir Putin vor einer Karte Polens. Dort sind die Regionen eingezeichnet, in denen der Drohnenflug stattfand.

Polen hat mehrere russische Drohnen abgeschossen. Laut EU gibt es Hinweise, dass Moskau vorsätzlich gehandelt hat. ZDFheute live zu Putins Zielen und der Reaktion der Nato.

10.09.2025 | 24:01 min

In der Nacht zu Mittwoch sind mehrere mutmaßliche russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen. Polen schoss sie ab. Der Kreml sagte nur so viel: Die Nato werfe Russland fast täglich militärische Provokationen vor, das sei nichts ungewöhnliches und passe ins Bild.

Wie ist der Vorfall einzuordnen? Testet Russland die Nato am Beispiel Polen ganz bewusst - und welche Konsequenzen hätte das?

Bei ZDFheute live gehen die ZDF-Korrespondenten vor Ort und Polen-Experte Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie Militärexperte Fabian Hinz auf diese Fragen ein.

Ist klar, dass es sich um russische Drohnen gehandelt hat?

Insgesamt sei in Bezug auf den Drohnen-Vorfall in Polen noch vieles unklar, sagt Militärexperte Fabian Hinz. Mit Sicherheit könne man jedoch sagen, dass "zumindest ein Typ russischer Drohnen eingesetzt wurde", die sogenannte Gerbera, sagt Hinz. Daran bestehe kein Zweifel.

Die Drohnentypen, die wir gesehen haben, das sind ganz klar russische Drohnen.

Fabian Hinz, Militärexperte

"Bei einem solchen Drohneneinsatz gibt es natürlich immer Gefahren für die Zivilbevölkerung", ergänzt Hinz. Zum einen hätten einige dieser Drohnen einen Sprengkopf, den sogenannten Gefechtskörper. Würden sie abgeschossen, könnten sie zudem immer noch einschlagen und dabei großen Schaden anrichten, erklärt der Militärexperte. Solche Systeme abzufangen sei also immer ein riskantes Manöver. "Und wir wissen beispielsweise aus der Ukraine, dass bei solchen Missionen auch ukrainische Piloten gestorben sind."

Karte Polen Drohnenabsturzstelle

Sehen Sie hier, wo einige der Drohnen abgeschossen wurden.

Quelle: ZDF

Unterdessen teilte das russische Verteidigungsministerium mit, keine Angriffe in Polen beabsichtigt zu haben. Es sei nicht geplant worden, Objekte in Polen anzugreifen, hieß es bei Telegram. Ohne die Luftraumverletzung konkret einzuräumen, erklärte sich das Militär in Moskau bereit, das Thema mit dem polnischen Verteidigungsministerium zu erörtern.

Polen-Experte Kai-Olaf Lang

Mit Drohnen wolle Russland die polnische Gesellschaft, die Regierung in Warschau und auch die Nato testen, so Polen-Experte Kai-Olaf Lang. Für Putin sei der Test kostengünstig.

10.09.2025 | 7:32 min

War der polnische Luftraum nicht gut genug geschützt?

Die polnische Grenze und auch der polnische Luftraum seien grundsätzlich gut geschützt, ordnet Militärexperte Hinz ein. Bei kleinen, tief fliegenden Drohnen sei es allerdings schwierig, hundertprozentige Sicherheit herzustellen. Daher sei es durchaus verständlich, "dass solche Systeme auch durch einen gut geschützten Luftraum durchdringen können und dann tief ins Landesinnere einwirken können", so Hinz.

Die polnische Flugabwehr und auch die Flugabwehr vieler Nato-Staaten habe prinzipiell qualitativ "sehr hochwertige Systeme" zur Verfügung. Gleichzeitig ist laut Hinz aber die Bedrohung durch Langstreckendrohnen "zumindest in dieser Qualität" neu.

Das heißt, man hat eine enorme Stückzahl von Drohnen, die man abfangen muss und das ist kompliziert.

Fabian Hinz, Militärexperte

Um das händeln zu können, brauche es spezialisierte Systeme und auch spezialisierte Taktiken, die trainiert werden müssten, erklärt Hinz.

Die Art und Weise wie diese Drohnen eingesetzt werden, ändert sich praktisch von Woche zu Woche, von Monat zu Monat.

Fabian Hinz, Militärexperte

Militärexperte Fabian Hinz

Bilder zeigten, dass es sich eindeutig um Drohnen vom Typ Gerbera handele, so Militärexperte Fabian Hinz. Die würden in China für Moskau zum Einsatz in der Ukraine entwickelt.

10.09.2025 | 6:27 min

Absicht oder Zufall - wie ist der Vorfall in Polen einzuschätzen?

"Das ist sicherlich kein Zufall, sondern eine Provokation", meint Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Man könnte sagen, dass es sich um einen dreifachen Test handelt.

Kai-Olaf Lang, Stiftung Wissenschaft und Politik

"Russland möchte erstens die polnische Luftverteidigung und damit auch die Luftverteidigung der Verbündeten auf die Probe stellen", erklärt Lang. Zweitens wolle Russland abklopfen, wie die polnische Gesellschaft, wie aber insbesondere auch die polnische Führung reagiert - ob man nervös werde oder ob man sehr schnell agiere. Drittens wolle Russland ganz klar sehen, "wie die Verbündeten, wie der Westen, wie insbesondere die Nato handelt - ob sie passiv bleibt oder entschlossen und geschlossen auftritt". Dieser "Test" in Form von Drohnenschwärmen sei für Russland "relativ kostengünstig". Das Prinzip laute: Mal schauen, wie es ausgeht.

"Ob das intentional war oder nicht ist eine ganz wichtige und schwierige Frage", sagt Militärexperte Hinz. Was den Vorfall definitiv auszeichne, sei die Tatsache, dass es nicht nur eine oder zwei Drohnen gewesen seien, "sondern wirklich eine größere Anzahl".

ZDF-Korrespondenten Armin Coerper und Isabelle Schaefers

Bilder zeigten, dass es sich eindeutig um Drohnen vom Typ Gerbera handele, so Militärexperte Fabian Hinz. Die würden in China für Putin zum Einsatz in der Ukraine entwickelt.

10.09.2025 | 6:37 min

Was hätte Russland von einer solchen Provokation?

Bei dieser Bewertung muss man laut ZDF-Korrespondent Armin Coerper zwei Dinge in Betracht ziehen: Die Nato-Staaten interpretierten den Vorfall als "militärisches Muskelspiel von Russland" und auch als Provokation. Gleichzeitig sei zu beachten, dass die "Koalition der Willigen" zuletzt "sehr intensiv über militärische Sicherheitsgarantien für die Ukraine" beraten habe, so Coerper. Der Kreml habe dies in seiner Propaganda genutzt und es so dargestellt, als wären die Nato-Staaten gewillt, Truppen in den Ukraine-Krieg zu entsenden - was faktisch nicht korrekt sei. Russland treibe diese Erzählung immer weiter.

Der Vorfall der vergangenen Nacht fällt in eine hier sehr angespannte Lage zwischen Russland und dem Westen.

Armin Coerper, ZDF-Korrespondent in Moskau

Polnische Einsatzkräfte untersuchen ein Feld, in dem abgeschossene russische Drohnen gefunden wurden.

Nach dem Abschuss von russischen Drohnen über Polen wurden zwölf Drohnen und Trümmerteile einer Rakete sichergestellt. Die Regierung spricht von 19 Verletzungen des Luftraums.

10.09.2025 | 1:54 min

Wie reagieren Polen und seine Verbündeten?

Polen reagiert aus Sicht des Experten "umsichtig, aber handlungswillig und entschlossen".

Man möchte zeigen, dass man die Dinge im Griff hat, man möchte demonstrieren, dass man diesen Test bestehen kann.

Kai-Olaf Lang, Stiftung Wissenschaft und Politik

Insgesamt sei man sich in Polen bewusst, dass die Risiken, die mit Russland verbunden seien nicht abstrakt sind, resümiert Lang. Man sei weder "hysterisch" noch "alarmistisch". Aber man wisse um die Tatsache, dass man als "zentraler Pfeiler an der Ostflanke der Nato" im "Visier Russlands" sein könne.

Die polnische Befehlskette habe funktioniert, genau wie weitgehend auch die polnische Flugabwehr, sagt Lang. Einige der Drohnen seien aber auch sehr weit ins Landesinnere gekommen. Zudem habe die polnische Regierung schnell auch die Nato eingeschaltet: Nach Ansicht von Lang ein Signal, dass es sich bei dem Vorfall nicht nur um eine Provokation gegen Polen handele. "Mit der Aktivierung des Artikel 4 ist Polen hier den ersten Schritt gegangen", betont Lang.

Flagge der Nato
Quelle: dpa

Der Artikel 4 des Nato-Vertrags sieht Beratungen vor, wenn sich ein Nato-Staat von außen gefährdet sieht. Konkret heißt es darin: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Konkrete Konsequenzen müssen die Konsultation der Artikel-4-Beratungen nicht haben. Theoretisch könnte aber etwa in Folge die Luftraumüberwachung über die Nato verstärkt werden.

Der Artikel wurde seit Gründung des Bündnisses 1949 sieben Mal in Anspruch genommen - zuletzt am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechien und der Slowakei. 

Quelle: dpa


Laut ZDF-Korrespondentin Isabelle Schaefers eine Seltenheit: Seit Bestehen der Nato sei das nur sieben Mal passiert. Eine militärische Reaktion folgt laut Schaefers daraus aber noch nicht.

Was aber ganz klar ist, ist, dass politische Konsequenzen jetzt durchaus angekündigt wurden - sowohl von der Nato als auch von der EU.

Isabelle Schaefers, ZDF-Korrespondentin in Brüssel

Viele europäische Staats- und Regierungschefs bezeichneten die Verletzung des polnischen Luftraums als inakzeptabel oder äußerten, dass Russland die Nato testen wolle. Auch die EU unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekräftigte volle Solidarität mit Polen. Man wolle nun etwa die Luftabwehr an der Ostflanke der Nato weiter verstärken, die bislang "solche Massen von Drohnen nicht unbedingt abwehren kann", so Schaefers.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gestikuliert während ihrer Rede zur Lage der Union im Europäischen Parlament in Straßburg.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Polen die volle Solidarität zugesichert. Das betonte sie in ihrer Rede im Europäischen Parlament zur Lage der EU.

10.09.2025 | 1:36 min

Wie handlungsfähig ist das polnische Militär grundsätzlich?

Polen hat laut Lang ein umfangreiches Programm zur Modernisierung seiner Streitkräfte. Unter anderem sollen Kampfflugzeuge moderner Bauart aus den USA und Korea beschafft werden. Zudem wolle man die größte Landstreitkraft der Nato aufbauen. Die Rüstungsausgaben liegen bei fünf Prozent.

Polen möchte hier ein effektiver Prellbock sein, ein Bollwerk an der Ostflanke der Nato.

Kai-Olaf Lang, Stiftung Wissenschaft und Politik

Wichtig für Polen sind neben der Nato aber auch die USA als Verbündeter. "Grundsätzlich gilt in der polnischen Sicherheitspolitik: Nato first und USA first", so Lang. Die vereinigten Staaten mit ihrer nuklearen und konventionellen Streitmacht seien mit Blick auf die Verbündeten sozusagen der Eckpfeiler der polnischen Sicherheitspolitik.

Deswegen arbeite Polen seit vielen Jahren darauf hin, die "Verteidigungs- und rüstungswirtschaftlichen Verzahnungen mit den USA zu intensivieren", erklärt der Experte. Viele große Rüstungsprojekte liefen gemeinsam mit den USA und die USA hätten auch eine gewisse eigene Truppenstärke in Polen. Man präsentiere sich gerade auch gegenüber Trump als "loyaler und zuverlässiger Partner".

Die Interviews bei ZDFheute live führte Philip Wortmann.

Quelle: ZDF

Mehr zum Thema