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Boxsport in Nordengland:Brutaler Kampf mit bloßen Fäusten boomt
von Hilke Petersen, London
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Die Männer boxen ohne Handschuhe. Nur mit leichten Bandagen, die die Knöchel freilassen: Das ist Bare-Knuckle-Fight. Vielen hilft genau das, ihr Leben im Griff zu behalten.
Blutige Verletzungen und blaugeschlagene Augen nehmen sie in Kauf für den Adrenalinkick. Die Sanitäter im Ring haben die Macht, die Kämpfer jederzeit zu stoppen, nachdem das Startkommando "Fight" - Kämpft - erklungen ist. Für maximal drei Zwei-Minuten-Runden. Wer zu Boden geht, hat 20 Sekunden Zeit, wieder aufzustehen. Beim regulären Boxsport sind es nur zehn Sekunden.
Familienausflug zum Box-Spektakel
Etwa 250 Zuschauer sind in die Boxarena ins nordenglische Carlisle gekommen, sitzen und stehen um einen kleinen Ring, den sie aus schweren Strohballen gebaut haben. Vor allem Männer sind gekommen, aber auch Frauen. Und nicht wenige Mädchen und Jungen, kaum älter als neun Jahre. Es ist ein hartes Milieu, in dem sie Bare-Knuckle-Boxwettkämpfe austragen. Die sind legal in Großbritannien, werden bei Polizei und Behörden ordnungsgemäß vom Veranstalter angemeldet.
Bare-Knuckle-Champion mit Narben
Der ungeschlagene Champion Nathan Dixon, in seinem Alltag ist er Dachdecker, erzählt von seiner Kindheit in einer nordenglischen Kleinstadt. Jeden Tag habe er sich auf der Straße mit anderen Kindern geprügelt, seine Mutter habe ihn angespornt, sich durchzusetzen. Vorher bräuchte er gar nicht nach Hause zu kommen. Die lange Narbe auf seiner Stirn: Vom Kampf mit dem Bruder, der mit einer Glasflasche zuschlug, sagt Nathan Dixon:
Ich bin dann irgendwann weggezogen aus meinem Heimatort. Wäre ich dort geblieben, säße ich heute im Knast. Oder wäre tot.
Nathan Dixon, Bare-Knuckle-Fight-Champion
Immer mehr Kriminalität und Todesfälle
Junge Männer in Nordengland leben gefährlich. Bandenkriminalität ist ein wachsendes Problem. Und Messergewalt findet immer mehr Opfer: Zuletzt 263 Todesfälle in einem Jahr, in England und Wales zusammen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, fast unabhängig von der Konjunktur in manchen Stadtbezirken in Nordengland um die 50 Prozent.
Von staatlicher Stütze zu leben - das scheint in manchen strukturschwachen Gegenden geradezu ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sein. De-Industrialisierung als Spätfolge der Wirtschaftspolitik in der Thatcher-Ära hat viele Städte veröden lassen.
Ein Sport, der Respekt verschafft
Was all das mit dem brutalen Sport zu tun haben könnte, erforscht Deborah Jump, Soziologin an der Manchester Metropolitan University. Früher seien die Männer mit ihren Jobs in Stahlfirmen und Kohleminen die Ernährer ihrer Familien gewesen. Dass sich das gewandelt habe, mache einen großen Unterschied für die mentale Gesundheit vieler. Deborah Jump sagt:
Sie schämen sich dafür, dass sie nicht in der Lage sind, für die Familie zu sorgen, und im Job ihre Männlichkeit durch Körperkraft zu beweisen. Deshalb wenden sie sich dem Sport zu, um sich auf andere Weise Respekt zu verschaffen.
Dr. Deborah Jump, Manchester Metropolitan University
Wie wichtig es für die jungen Männer ist, respektiert zu werden, weiß auch Christian Roberts, Gründer des Spartan Bare-Knuckle-Fight-Clubs. Viele der Kämpfer in den vom ihm organisierten Wettbewerben hätten das nie erlebt. Hier bekämen sie Respekt vom Gegner und von den Fans.
Das wollen sie nie wieder aufgeben. Also bleiben sie auf Kurs.
Christian Roberts , Spartan Bare-Knuckle-Fight-Club
Lernen, kontrolliert mit Aggression umzugehen
Für den Kampf zu trainieren, bedeute eben auch, Disziplin wahren zu müssen im Leben. Die Männer lernten, so glauben sie im Spartan-Club, im Ring kontrolliert mit Aggressionen und Gewalt umzugehen. "Knifes down, fists up" ist das Spartan-Motto. Heißt: Weg mit den Messern, kämpft fair mit Fäusten. Denn dann gingen nicht so leicht Leben verloren.
Deborah Jump, die die psycho-sozialen Wirkungen des Boxens erforscht, hält das für ein wenig zu einfach. Faustkampf sei kein Allheilmittel für alle sozialen Missstände, verändere nicht grundlegend den Umgang mit Gewalt: "Es sind bestimmte Communities, die vom Bare-Knuckle-Kampf angezogen werden. Weil es die Sprache spricht, die sie verstehen. Gewalt hat sie womöglich lange Zeit in ihrem Leben begleitet, sei es häusliche Gewalt, sei es Bandengewalt."
Keine Boxstudios in der Mittelschicht
In vielen Gegenden in Nordengland herrsche Armut, und auch das sei eine Form von Gewalt, so die Expertin: "Deshalb gibt es auch dort, wo die Mittelschicht zuhause ist, eher keine Boxstudios, weil sie die Sprache der Gewalt dort nicht verstehen."
Der Auftritt von Nathan Dixon ist der Höhepunkt des Wettkampfs in der Boxarena in Carlisle. Die Gürtel, die er bei den wichtigen Meisterschaften gewonnen hat, tragen seine Frau und seine Töchter voraus, als er auftritt. Das Publikum applaudiert der Inszenierung seines Bare-Knuckle-Helden. Der Kampf ist kurz und schmerzvoll. Und Dixon der Sieger, mal wieder.
Hilke Petersen ist Korrespondentin und Leiterin des ZDF-Studios in London.
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