Tag der Zivilcourage:"Wegschauen keine Option"
Am 19. September ist Tag der Zivilcourage. Anderen zu helfen, ist in Deutschland aber noch nicht alltäglich. Das Bewusstsein dafür wächst jedoch. Über die Situation in Deutschland.
Im Alltag ist oft Zivilcourage gefragt.
Quelle: ImagoOb im Job, auf der Straße oder im Netz: Wenn Menschen angegangen werden, ist Zivilcourage gefragt. Warum engagiertes Handeln wichtiger ist denn je und wie jeder helfen kann, erläutert Silke Gorges vom Bundesnetzwerk Zivilcourage.
Am Leitner Weiher geht ein Mann unter - ein Unbekannter springt ins Wasser, rettet und reanimiert den Mann. Die Überlebenschancen des Schwimmers sind dank der Zivilcourage gut.
20.05.2025 | 1:28 minZDFheute: Wie ist es derzeit um die Zivilcourage in Deutschland bestellt?
Silke Gorges: Insgesamt ist das Bewusstsein für Zivilcourage in den letzten Jahren gestiegen. Proteste gegen Rassismus, die Debatte um sexuelle Belästigung aber auch Fälle von Gewalt im öffentlichen Raum haben dazu geführt, dass die Gesellschaft sensibler und achtsamer geworden ist.
Wir beobachten, dass viele Menschen das Thema heute ernster nehmen.
Silke Georges, Mitglied im ehrenamtlichen Sprecherrat des Bundesnetzwerks Zivilcourage
Viele haben festgestellt, dass das, wofür sie einstehen, kein Selbstläufer mehr ist. Dem gegenüber steht aber auch eine steigende Zahl von Menschen, die unzufrieden sind und sich zurückziehen.
... ist Mitglied im ehrenamtlichen Sprecherrat des Bundesnetzwerks Zivilcourage. Dieses ist eine Interessensgemeinschaft unterschiedlicher Vereine, Institutionen, Stiftungen, Organisationen, Trainer und Einzelpersonen, die sich für eine respektvolle und zivilcouragierte Gesellschaft stark machen. Gorges ist seit vielen Jahren Trainerin für Gewaltprävention und Zivilcourage. Sie hilft Einzelpersonen, Teams und Organisationen dabei, handlungssicher im Umgang mit herausfordernden Situationen und Gewalt zu werden. Als Expertin ist sie unter anderem in der Präventions- und Bildungsarbeit sowie Demokratiearbeit tätig.
ZDFheute: Was ist demnach dran am Vorwurf, dass zu häufig weggeschaut wird?
Gorges: Diesen Vorwurf möchte ich nicht pauschal stehen lassen, wenngleich er auch nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Leider greifen viele Menschen gerade in kritischen Situationen - etwa bei Belästigung in Bus oder Bahn - nicht ein. Das bedeutet aber nicht automatisch Gleichgültigkeit.
Häufig stehen Menschen unter Stress, sind unsicher, was richtig wäre, oder fürchten Konsequenzen. Der Eindruck, dass niemand etwas tut, entsteht oft auch deshalb, weil couragierte Handlungen nicht immer so sichtbar sind. Viele Menschen leisten Zivilcourage leise, etwa indem sie bei rassistischen, sexistischen oder grenzüberschreitenden Verhaltensweisen den Mund aufmachen.
Bei organisierter Gewalt würden vor allem ehrenamtlich Tätige eingeschüchtert. Hier gelte es, Rückgrat und Zivilcourage zu beweisen, so der niedersächsische Ministerpräsident Weil.
10.05.2024 | 1:16 minZDFheute: Was hält Menschen davon ab, couragiert zu sein?
Gorges: Da spielen sicherlich verschiedene Faktoren eine Rolle - etwa Angst, Unsicherheit oder das Gefühl, nicht verantwortlich zu sein. Angst, weil Menschen fürchten, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Unsicherheit, weil viele schlicht nicht wissen, wie sie im Ernstfall reagieren sollen.
Und dann ist da noch das Gefühl, dass da doch genug andere sind, die in der konkreten Situation viel besser helfen könnten, weil man selbst vielleicht gerade mit seinen Kindern unterwegs ist.
Außerdem bekommen viele schlichtweg gar nicht mehr mit, was um sie herum passiert, weil sie sich durch Smartphone oder Kopfhörer viel zu sehr ablenken lassen. Das ist übrigens auch deshalb problematisch, weil man so natürlich auch selbst leichter zum Opfer wird.
An einer Schule in Burg war rechtsextreme Hetze an der Tagesordnung. Zwei Lehrkräfte, Laura Nickels und Max Teske haben diese Umstände durch einen Brandbrief öffentlich gemacht. Jetzt erhalten sie den Preis für Zivilcourage.
23.11.2023 | 1:56 minZDFheute: Wie können Menschen ermutigt werden, sich für andere einzusetzen?
Gorges: Entscheidend sind Aufklärung und Training. Uns allen muss klar sein, dass Zivilcourage nicht bedeutet, todesmutige Heldentaten vollbringen zu müssen. Zivilcourage kann vielmehr schon darin bestehen, laut und deutlich auf eine Situation aufmerksam zu machen, Hilfe zu organisieren oder sich mit anderen zusammenzutun.
Mit einer Gardinenstange verteidigt sich ein 66-jähriger Kioskbesitzer aus NRW gegen einen bewaffneten Räuber. Die Polizei lobt die Zivilcourage, warnt aber vor Nachahmung.
04.12.2024 | 1:59 minSchulen, Vereine und Unternehmen aber auch die eigene Familie und Freunde spielen dabei eine wichtige Rolle:
Wenn wir früh lernen, dass Wegschauen keine Option ist, dann wird Zivilcourage Teil unserer Alltagskultur.
Silke Georges
ZDFheute: Wie kann jeder im Ernstfall handeln, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen?
Gorges: Es gibt eine klare Faustregel: Schütze dich selbst, während du anderen hilfst. Das heißt: Nicht blind dazwischengehen, sondern Hilfe organisieren. Polizei rufen, andere Anwesende gezielt ansprechen, laut Aufmerksamkeit erzeugen.
Außerdem können schon kleine Gesten, wie das gezielte Ansprechen eines Opfers, viel bewirken: "Möchten Sie, dass ich bei ihnen bleibe?" oder "Komm und setz dich zu uns".
Solche Handlungen sind wirksam, ohne dass man sich selbst in eine gefährliche Lage bringt.
Silke Georges
Letzteres, den so genannten Opferklau, können auch Schüler auf dem Pausenhof problemlos anwenden.
ZDFheute: Welche Tipps können Sie Menschen in einer Opfer-Situation geben?
Gorges: Wichtig ist, dass Betroffene nicht in Schockstarre verharren, sondern klar signalisieren: "Ich will das nicht." Wenn möglich, sollten sie laut und deutlich sprechen, damit Umstehende aufmerksam werden.
Der Satz "Bitte helfen Sie mir" direkt an eine konkrete Person gerichtet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese auch reagiert. Außerdem ist es wichtig, nach einer Situation Unterstützung anzunehmen - sei es durch Polizei, Beratungsstellen oder den Freundeskreis und die Familie. Niemand muss mit einer solchen Erfahrung allein bleiben.
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ZDFheute: Was bedeutet Zivilcourage für Sie persönlich?
Gorges: Zivilcourage heißt für mich, Verantwortung für andere zu übernehmen, ohne sich selbst zu überschätzen. Es geht darum, solidarisch zu sein - im Kleinen wie im Großen. Jede und jeder kann couragiert handeln, und sei es durch einen Anruf, ein beherztes Wort oder ein Zeichen der Unterstützung. Zivilcourage beginnt damit, nicht wegzuschauen.
Das Interview führte Michael Kniess.
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