Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:Mit Preisträger Karl Schlögel ins ukrainische Lwiw
von Ralf Rättig
Karl Schlögel, einer der profiliertesten Kenner Osteuropas, wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt - einem der bedeutendsten Kulturpreise Deutschlands.
Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises an den Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat ihn die Kulturzeit auf einer Reise ins ukrainische Lwiw begleitet.
14.10.2025 | 11:55 min1948 wurde Karl Schlögel in Hawangen im Allgäu geboren. 1965 war er das erste Mal in Prag, 1966 in Moskau. Mittlerweile ist der Historiker 77 Jahre alt, doch als die Frage aufkam, wohin die ZDF-Redaktion Kulturzeit den frisch gekürten Friedenspreisträger für einen Film begleiten könnte, kam die Antwort postwendend: in das ukrainische Lwiw.
16 Stunden Zugfahrt und zwei Grenzen entfernt - eine davon zu einem Land im Kriegszustand, eine Strapaze, doch ganz in Schlögels Sinn. Von Anfang an war das sein Ansatz: Geschichte nicht vom Schreibtisch aus zu entschlüsseln, sondern in Bewegung, vor Ort. "Im Raume lesen wir die Zeit", heißt sein wichtigstes theoretisches Werk.
Schlögel: "Stadt zum Sprechen bringen"
In Lwiw angekommen, kann man seine Neugierde spüren, miterleben, wie er denkt: Man müsse diese Stadt zum Sprechen bringen, sagt er. Das sei sehr aufregend, sehr anstrengend und gleichzeitig sehr augenöffnend. Überall gehe es ihm so, an jedem Ort.
Dinge, von denen wir dachten, sie seien für ewig gesichert, kämen ins Rutschen, so Historiker Karl Schlögel mit Blick auf den Frieden in Europa. Man müsse sich neu aufstellen.
03.10.2025 | 5:43 minMan muss nur ein bisschen kratzen an der Oberfläche und plötzlich fängt eine Stadt an, ihre Geschichte preiszugeben.
Karl Schlögel, Historiker und Preisträger Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025
Doch welche Geschichte? Europas lange wechselvolle Geschichte lässt sich an diesem Ort ablesen: Lwiw, das ehemalige Lemberg, war ungarisch, moldauisch, polnisch, österreichisch, russisch, deutsch, sowjetisch und ukrainisch, hat Schlögel 1988 festgestellt, als er das erste Mal darüber schrieb. Da lag die Ukraine noch hinter dem "Eisernen Vorhang".
Historiker mit großer literarischer Gabe
Seit Jahrzehnten erforscht er reisend die Umbrüche und die Neugestaltung Europas, von der Auflösung der Sowjetunion bis zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Anne Applebaum, US-polnische Journalistin und Expertin für osteuropäische Geschichte, hat 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.
19.10.2024 | 15:56 minIn der Jurybegründung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels heißt es, er habe Kiew und Odessa, Lwiw und Charkiw auf die Landkarten seiner Leserinnen und Leser gesetzt und St. Petersburg oder Moskau als europäische Metropolen beschrieben.
Schlögel hat eine große literarische Gabe und oft sind es schon die Titel seiner Bücher, die Denkanstöße geben, wie "Die Mitte liegt ostwärts". Begreifbar zu machen, dass das, was durch den "Eisernen Vorhang" getrennt war, eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte hat, dass Mitteleuropa nicht an der Oder aufhört, sondern zum Beispiel auch Lwiw umfasst, ist einer seiner größten Verdienste.
Daraus entsteht auch ein Anspruch: Wer die Ukraine so dezidiert als europäisches Land beschreibt wie Schlögel, den kann der Angriffskrieg Russlands nicht unberührt lassen.
Historiker: Zu keiner Zeit positives Bild von Putin gehabt
Seit 2022 herrscht wieder Krieg in Europa, für Schlögel sicher einer der größten Umbrüche seiner Lebenszeit. Umso mehr, als seine Hoffnung lange auf einer Verständigung mit Russland lag.
Zu keinem Zeitpunkt, sagt er auf der Zugfahrt nach Lwiw, habe er eine positive Vorstellung von Putin gehabt. Aber er habe die russische Bevölkerung mit ihrer langen sowjetischen Diktaturerfahrung für resistent gehalten gegenüber den demagogischen, verlogenen und chauvinistischen, nationalistischen Reden aus dem Kreml und speziell von Putin.
Das war eine große Täuschung.
Karl Schlögel, Historiker
Der junge Wladimir Putin wächst auf in den rauen Hinterhöfen Leningrads. Doch ihm gelingt der Sprung an die Universität und an die Kaderschmiede des KGB.
21.09.2025 | 43:49 minKrieg gegen Europa - nicht nur gegen die Ukraine
Die russische Besetzung der Krim 2014 war für Schlögel ein Schock. Seitdem ist er zum Warner geworden vor der aggressiven Expansionspolitik Wladimir Putins. Und er hat alles dafür getan, das Verständnis für die Lage der Ukraine zu erhöhen. Noch immer scheine hier häufig das Bewusstsein zu fehlen, um was es in der Ukraine geht.
Was wäre eigentlich, wenn ein Angriff auf Innsbruck oder München oder Marseille stattfinden würde?
Karl Schlögel, Preisträger Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025
Schlögel fürchtet, dass man in Europa immer noch nicht voll zur Kenntnis genommen habe, dass dieser Krieg ein Krieg gegen Europa sei und nicht nur die Ukraine. Seine Mahnung an uns, so heißt es in der Jury-Begründung, ohne eine freie Ukraine könne es keinen Frieden in Europa geben.
Ralf Rättig ist Redakteur der Redaktion 3sat-Kulturzeit.
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