Gewaltfreie Erziehung: Körperstrafen immer weniger akzeptiert
Interview
Gewaltfreie Erziehung:Akzeptanz von Körperstrafen deutlich gesunken
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Vor knapp 25 Jahren wurde in Deutschland Gewalt in der Erziehung per Gesetz geächtet. Mit Erfolg, so Unicef: Die Akzeptanz für körperliche Strafen ist niedriger als jemals zuvor.
Die Akzeptanz von Gewalt in der Erziehung ist deutlich gesunken. (Symbolfoto)
Quelle: dpa
Als positiv bewerten Unicef Deutschland und die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm die Ergebnisse ihrer aktuellen Studie über die Akzeptanz von Gewalt in der Kindererziehung.
Denn diese Akzeptanz ist "so gering wie nie zuvor" - knapp 25 Jahre nach der gesetzlichen Verankerung der gewaltfreien Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Die repräsentative Studie zeige jedoch auch, wo der Handlungsbedarf noch hoch sei, sagt Professor Jörg Fegert vom Universitätsklinikum Ulm.
ZDFheute: Welche Gruppe unter den Befragten lehnt Gewalt in der Kindererziehung am stärksten ab?
Jörg Fegert: Es ist gut, dass Sie so herum fragen: Wer lehnt Gewalt am meisten ab? Weil das ist schon mal die positive Botschaft:
Je jünger die Befragten sind, desto mehr lehnen sie Gewalt in der Erziehung ab.
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Das gibt uns Hoffnung: Denn das sind ja die heutigen Eltern und die Eltern von morgen. Unter ihnen lehnen Frauen Gewalt auch häufiger ab als Männer.
Quelle: privat
... studierte Medizin und Soziologie. Nach der Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie leitete er die Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie/Psychotherapie der Universität Rostock.
Im Jahr 2001 gründete er am Universitätsklinikum Ulm die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie und ist seither deren ärztlicher Direktor.
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Das gibt uns schon einen Hinweis, dass wir vielleicht im Kinderschutz und überhaupt in der pädagogischen Prävention sehr viel stärker auch nochmal schauen müssen, die Väter zu erreichen.
ZDFheute: Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis aus der aktuellen Studie?
Fegert: Die wichtigste Erkenntnis ist, dass man durch Gesetzgebung Haltungen vermitteln und Einstellungen verändern kann - und das ohne dass man Strafen androht. Damals, um die Jahrtausendwende, waren CDU und CSU gegen dieses Gesetz. Das sei reine Symbolpolitik, das bringe sowieso nichts.
Wir können jetzt durch mehrere Untersuchungen empirisch belegen, das hat sehr viel gebracht: Die Akzeptanz von Körperstrafen ist Stück für Stück deutlich zurückgegangen, nur noch ein Drittel der Bevölkerung hält das für akzeptabel.
Akzeptanz körperlicher Bestrafung
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ZDFheute: Ist das Ergebnis der Studie ein gutes Signal für Ihre künftige Arbeit?
Fegert: Das kann immer noch besser werden, aber wir sehen: Der Staat kann deutlich machen, welche Haltung in der Erziehung angebracht ist, und das hat einen ganz wichtigen Effekt für den Kinderschutz.
Eltern trauen sich heute sehr viel mehr, andere Eltern darauf hinzuweisen, wenn sie ihre Kinder zum Beispiel am Spielplatz schlagen oder verbal demütigen.
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ZDFheute: Sie sind Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum in Ulm. Schlägt sich die sinkende Akzeptanz auch in einem Rückgang von Gewalt in der Erziehung nieder?
Fegert: Ich bin Spezialist für Kindesmisshandlungen, für Traumatisierungen, für sexuellen Missbrauch. In unserer Alltagserfahrung sehen wir sehr, sehr viele Probleme.
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Deshalb ist es für uns wichtig, den positiven Trend in der Gesamtbevölkerung zu sehen. Wir nehmen in der Praxis und in den Studien einen großen Anstieg der Übergriffe im Internet wahr. Es gibt also viele Punkte, die uns Sorgen machen.
Als Quintessenz kann ich als Praktiker des Kinderschutzes sagen: Wir müssen die Hilfen verbessern. Wir haben gute, wirksame Therapien und so weiter. Aber wir müssen auch unserer staatlichen Verpflichtung nachkommen, diese Entwicklungen im Blick zu behalten.
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ZDFheute: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Maßnahmen, die die Politik ganz konkret angehen muss?
Fegert: Erstens dieses Monitoring. Einfach konkret hinschauen. Zweitens die neuen Gefährdungen in der digitalen Welt ernst nehmen. Das wurde ja auch sehr klar jetzt im Koalitionsvertrag angesprochen. Da ist also zu hoffen, dass das dann auch wirklich aufgegriffen wird.
Auch halte ich es für wichtig, dass man Kinderrechte in die Verfassung aufnimmt.
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Denn die Corona-Krise und die folgenden Krisen und die große Mental-Health-Crisis, die wir zurzeit bei Kindern und Jugendlichen haben, zeigen, dass unter Stress, unter Belastung, auch die Gefährdung für Gewalt zunimmt. Und wir müssen einfach einen systematischen Blick auf die Folgen unserer Maßnahmen für Kinder haben.
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ZDFheute: In der aktuellen Studie befassen Sie sich erstmals auch mit emotionaler Gewalt, wie Anschreien und Essensentzug. Haben physische und emotionale Gewalt unterschiedliche Folgen für Heranwachsende?
Fegert: Nein, und das ist eine sehr, sehr wichtige Frage. Es gibt Langzeitforschungen, bei denen man sieht, dass emotionale Gewalt und sexuelle Gewalt ähnlich starke Langzeitfolgen haben. Ich meine damit nicht den Alltagsausrutscher, wenn einem mal der Kragen platzt.
Aber wenn ein Kind in der Familie gemobbt, herabgesetzt wird, so dass sich kein Selbstwert entwickeln kann, wenn ein Kind schwer vernachlässigt wird, dann haben diese Personen lebenslange Gewaltfolgen.
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Akzeptanz emotionaler Bestrafung
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Dieser Satz, ein Klaps auf den Po oder eine Ohrfeige habe noch keinem geschadet, der wird immer stärker abgelehnt. Und wir müssen auch dahin kommen, dass das Anschreien, das Einsperren ins Zimmer, das "Heute kriegst du kein Mittagessen", also diese emotionalen Herabsetzungen, genauso geächtet werden.
Das Interview führte Christiana Ennemoser.
Quelle: dpa
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